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2016 SUMMER

Go, Mensch, Maschine

Im März verfolgte die ganze Welt mit Spannung das Fünf-Partien-Match imasiatischen Strategiespiel Go (kor.: Baduk) zwischen dem koreanischen GroßmeisterLee Se-dol und der Künstlichen Intelligenz AlphaGo der Google-Tochter DeepMindTechnologies. Es waren fesselnde Momente, in denen die Menschheit mitverfolgenkonnte, ob die alte Vorhersage, dass Künstliche Intelligenz (KI) einmal diemenschliche Intelligenz übertreffen werde, wahr werden könnte.

Der 9-Dan Go-Champion LeeSe-dol (rechts) beim Duellmit der Künstlichen IntelligenzAlphaGo von GooglesDeepMind. Gegenüber vonLee sitzt Aja Huang, DeepMinds Top-Programmiererund selbst 6-Dan-Amateurspieler,der die Steine fürAlphaGo setzte. Lee verlordas Fünf-Partien-Match 1:4.

Endlich ging das Duell zwischen Mensch und Maschine –etwas, was bislang nur in SF-Filmen zu sehen war – zuEnde. Das Match im Strategiespiel Go zwischen dem koreanischen9-Dan-Spitzenspieler Lee Se-dol, (Profi-Go-Rang 9p, Platz4 der Weltrangliste), auf dessen Schultern der flehentliche Siegeswunschder Menschheit lastete, und AlphaGo, der absoluten Spitzeder künstlichen Intelligenz, war ein Meilenstein in der Geschichteder Zivilisation. Dass eine Maschine die Menschheit im Go, einemSpiel, dessen Prinzipien auf menschenspezifischen Eigenschaftenwie Intuition und Kreativität beruhen, herausforderte, war ein epochemachendesEreignis, das auf die Weichenstellung für die künftigeRichtung von KI hinweist.

Go: das Spiel mit den einfachsten Regeln

Vermutlich gibt es kein Spiel, das so einfach aufgebaut ist wie Go:Für westliche Brettspiele wie Backgammon braucht man speziellesSpielzubehör. Auch für Schach oder die koreanischen SchachvarianteJanggi benötigt man Figuren verschiedenster Form. BeiGo jedoch genügen schwarze und weiße Steine und ein Brett mitwaagrechten und senkrechten Linien. Hat man keine Spielsteinezur Hand, tun es auch Kiesel oder Holzstücke. Vor kurzem sahich auf einer Wissenschaftskonferenz im Ausland, wie ein koreanischerProfessor und ein ausländischer Wissenschaftler eine PartieGo spielten, bei der sie mangels Spielsteinen ihre Züge einfach mitBleistift auf einem karierten Blatt Papier markierten. Für kaum einanderes Brettspiel dürften Papier und Bleistift ausreichen. Auch dieRegeln sind so einfach, dass jeder sie in zehn Minuten lernen kann.Es gibt nur eine einzige Regel für das Schlagen von Steinen, diesog. Ko(劫, Ewigkeit)-Regel, die dazu dient, eine endlose Wiederholungder Stellung zu verhindern: Schlägt ein Spieler einen einzelnengegnerischen Stein, darf der Gegner im nächsten Zug nichtzurückschlagen, wenn dadurch wieder die gleiche Anordnung vonSteinen wie nach dem vorausgegangenen Zug entstehen würde.Es ist allgemein anerkannt, dass Go aus China stammt, wo sichauch die ältesten Go-Spielnotationen befinden. Laut einer Theoriesoll ein Urkaiser das Spiel zur Bildung seiner Kinder entwickelthaben. Fest steht auf jeden Fall, dass Go bereits in den chinesischenKlassikern wie den Analekten des Konfuzius und im Menziuserwähnt wird, d.h. es erfreute sich bereits in der Zeit der StreitendenReiche (475–221 v. Chr.) Beliebtheit. In Korea soll es im 4.-5. Jhin der Zeit der Drei Königreiche (57 v. Chr.-668 n. Chr.) Verbreitunggefunden haben.

Vor dem Aufkommen von Computer und Internet galt Go als besterZeitvertreib. Nur eine Partie Go konnte Erwachsene stundenlagbeschäftigen und reglos über einem Spielbrett brüten lassen.Ein weiterer Unterschied zwischen Go und anderen Spielen bestehtdarin, dass das Instrumentarium strategischer Möglichkeitenimmens ist und die Unterschiede zwischen alten Hasen und Anfängernenorm sind. So ist es eine echte Seltenheit, dass quasi einLehrling das Anfängerglück hat, einen Meister schlägt. Seit jehersind die Hürden zwischen den einzelnen Rängen hoch und ein Neulinghat so gut wie keine Chance, überhaupt gegen einen Fortgeschrittenenantreten zu können.

Go übte in allen ostasiatischen Ländern starken Einfluss auf dieganze Kultur aus und entwickelte sich zu einem Spiel, das denGeist Asiens repräsentiert: Die Welt des Meisters, der der Anfängersich nicht zu nähern wagt, Schwarz und Weiß, die Kontrastfarbender Steine, die für Yin und Yang stehen, die 361 Schnittpunkte, dieauf die unzähligen Himmelskörper des Kosmos verweisen – alldies besitzt hinreichend Symbolkraft, um die Mystik Asiens zumAusdruck zu bringen.

In Korea werden zudem viele Go-Begriffe in Politik, Wirtschaft undKultur verwendet. Der Begriff Cho-ilkgi (Sekunden zählen), der imGo den 60-Sekunden-Countdown bis zum nächsten Zug bezeichnet,wird im Alltag für Situationen gebraucht, in denen nur nochwenig Zeit bis zur endgültigen Entscheidung bleibt. Weitere Beispielesind Kkonnori-pae (Spielsituation wie bei einem Ausflug insBlumenfeld) zur Beschreibung einer ungemein vorteilhaften Situation;Bokgi (die Partie zurückverfolgen) für Evaluierungsprozess;Chogangsu (gewagter Zug) für einen verzweifelten, allerletztenVersuch; Susun (Sequenz) für einen folgenden Schritt; Hogu (Tigermaul)für eine ernsthafte Krise.

Von der Dampfmaschine bis zur Künstlichen Intelligenz

Das klassische westliche Weltbild, das oft eher mechanische undmaterialistische Züge aufweist, unterscheidet sich in mancher Hinsichtvom asiatischen Weltbild, das Gefühl und Geist des Menschenbesonders wertschätzt. Während z.B. die alten Asiaten die Erinnerungenund die Wehmut, die das Klappern des kochenden Teekesselsin ihnen erweckte, in der Literatur besangen, lag im Westender Fokus eher auf der mechanischen Kraft, die den Kesseldeckelzum Klappern bringt. Die von James Watt erfundene Dampfmaschine,die die Industrielle Revolution auslöste, beruhte auf solchennaturwissenschaftlichen Beobachtungen und führte einenhistorischen Wendepunkt herbei, an dem die maschinelle Kraft diemenschliche Muskelkraft zu ersetzen begann.Zudem wurde mit der Erfindung des Computers die SF-Utopieder Maschinenzivilisation, in der die Vernunft des Menschendurch die Maschine ersetzt wird, ein Stück wirklicher. Gleichzeitigwurde im Zuge des medizinischen Fortschritts schrittweise enthüllt,dass Aktivitäten, die bis dahinals „seelisch-geistig“ beschriebenwurden, in Wirklichkeit das Resultatbiochemischer Interaktion zwischenden Gehirnzellen sind. Neue Wissenschaftsrichtungenwie Gehirnforschungund Kognitivwissenschaft entstanden,als man feststellte, dass Geisteskrankheitenkein Teufelswerk, sondernErgebnis einer Über- oder Unter-funktion von Neurotransmittern sind. So wurde die materialistischeSichtweise durch die Wissenschaft systematisiert und die Maschinemachte sich nun daran, die geistigen Fähigkeiten des Menschennachzuahmen.Das Konzept der Künstlichen Intelligenz kam zwar schon in den1960er Jahren auf, doch realisiert wurde sie erst durch die Erfindungleistungsstarker Hardware, die auf Computer- und Halbleitertechnologiebasiert. Ausgeweitet wurde die Welt der KünstlichenIntelligenz dann durch den unbeschränkten Speicherplatz der BigData-Technologie. Derzeit beweist sie in Bereichen wie Flugzeugsteuerung,unbemannte Überwachung, Gesichtserkennung, Spamfilterung,Aktieninvestitionsberatung usw. ihr Können und stößt inverschiedene Industriebereiche vor. Es war der weltmarktführendeIT-Riese Google, der als erster den Wandel witterte. Für 400 Mio.Pfund übernahm Google das britische Unternehmen DeepMindTechnologies, den Entwickler von AlphaGo, und verschaffte sichdamit einen Vorsprung in der Entwicklung von KI-Systemen derZukunft.

Eine selbst für AlphaGo unberechenbare Lücke

Schüler verfolgen das Match zwischenMensch und Maschine in der Lee Se-dolGo Academie in Seoul. Lee richtete dieseForschungsinstitution 2014 ein, um jungeTalente zu entdecken und auszubilden.

Zunächst wurde Schach als das Spiel ausgewählt, bei dem dieKünstliche Intelligenz ihre Überlegenheit am dramatischstenzur Schau stellen sollte. Nach einigen misslungenen Versuchenbesiegte schließlich 1997 IBMs Schachcomputer Deep Blue denSchachweltmeister Garry Kasparov in einem offenen Wettbewerb– ein Erfolg, für den es nach dem Start der Mensch-Maschine-Schachduelle 30 Jahre brauchte. 2011 besiegte IBMs SupercomputerWatson in der berühmten Quizshow Jeopardy seinemenschlichen Konkurrenten gnadenlos. Das waren jedoch keineallzu großen Überraschungen, da viele Wissenschaftler prophezeithatten, dass bei Wettkämpfen mit einer finiten Zahl an Lösungen,wie sie bei Schach oder Quizspielen gegeben ist, der Mensch keineChance gegen den Computer habe. Damit wurde Go, bei dem dieZahl der möglichen Spielzüge ins Astronomische geht, zum nächstenFeld, auf dem Mensch und Maschine ihre Kräfte messen konnten.Lange herrschte der Glaube, dass der Mensch sich beim Go nichtso leicht von der Künstliche Intelligenz besiegen lasse, da bei diesemSpiel menschliche Intuition in Kombination mit traditionellasiatischen Denkmustern eine Rolle spielen. In der Tat hatten bisdahin die Go-Computerprogramme dem Menschen nicht das Wasserreichen können. Schwächen waren v.a. die mangelnde Fähigkeitder Maschine, zu erfassen und die Intention des Gegners zu lesen.Das änderte sich schlagartig mit AlphaGo.Vom 15. Bis 19. März 2016 fand das Fünf-Partien-Duell zwischendem koreanischen Go-Champion Lee Se-dol und AlphaGo statt.Das Ergebnis, das alle Expertenvorhersagen übertraf, war ein großerSchock für alle: AlphaGo siegte souverän mit 4:1. Besondersgroß war der Schock für die Profi-Spieler, die AlphaGos geschickteund kaltblütige Züge, auf die ein Mensch so nie kommen würde, inErstaunen versetzten.

Anfangs hielten viele Live-Kommentatorendie manchmal ungewöhnlichen Sequenzen AlphaGos für Fehler,doch dann stellte sich heraus, dass es sich vielmehr um neue, weitvorausschauende Sequenzen handelte, die das Resultat immenserBerechnungen waren. In den ersten drei Partien machte AlphaGokeinen einzigen Fehler und gewann Schritt für Schritt die Oberhand,was Lee an Sicherheit verlieren und reihenweise Fehlermachen ließ und der Maschine schließlich den Sieg brachte. Dochin der vierten Partie kam die Riesenüberraschung: Nach drei Niederlagenin Folge begann Lee, AlphaGos Strategien zu analysierenund erkämpfte sich den Sieg. Damit bewies er, dass selbst AlphaGonicht jedes strategische Schlupfloch stopfen kann.AlphaGo akkumuliert sein Wissen anhand der Spielnotationen,d.h. er analysiert alle bisherigen Strategien des Siegers, berechnetdie Siegwahrscheinlichkeit jedes einzelnen Zuges und speichertalle diesbezüglichen Daten. Möglich wurden diese kompliziertenBerechnungen durch ein riesiges Netzwerk von Hardware-Vorrichtungen.Die 1.200 Prozessoren und der Server von Google Cloudspeichert alle Züge, die Go-Großmeister jemals gemacht haben,und auch deren mögliche Varianten. Auch in Bezug auf den Zeitfaktorist AlphaGo dem Menschen überlegen, da er diese Informationenrasch bearbeiten und sofort anwenden kann, ohne Zwischenrechnungenanstellen zu müssen. Hauptstärke von AlphaGoist aber, dass es mithilfe der Monte-Carlo-Simulation, eines computerisiertenmathematischen Modells, bei dem randomisierteAlgorithmen mit unabhängigen Zufallsbits wiederholt angewendetwerden, die beste Strategie identifizieren kann. Ein Mensch kannhöchstens 30 mögliche Go-Züge pro Stunde prüfen, indem er einenStein nach dem anderen auf das Brett legt, doch AlphaGo kanndiese Trial-and-Error-Methode in der selben Zeit über eine MillionMal anwenden, um den optimalen Zug zu bestimmen. Als Ergebniskonnte die Maschine bei diesem Match erfolgreich mit völlig neuenZügen aufwarten, auf die ein Mensch so schnell gar nicht hättekommen können. Diese nach menschlichem Ermessen absurdenZüge, die die Zuschauer zunächst sprachlosmachten, entpuppten sich letztendlich als brillanteManöver.

Lee Se-dols Aussage direkt nach dem Duell, dass es nun an der Zeit sei, „die herkömmlichenGo-Spieltheorien erneut zu prüfen“, ist wohl das zutreffendste Fazit des Matches. Mit demAufkommen der Künstliche Intelligenz steht der Mensch vor einem neuen Wendepunkt in derGeschichte der Go-Spieltheorie.

AlphaGos Schwäche

Lee Se-dols Aussage direkt nach dem Duell,dass es nun an der Zeit sei, „die herkömmlichenGo-Spieltheorien erneut zu prüfen“, istwohl das zutreffendste Fazit des Matches. Mitdem Aufkommen der Künstlichen Intelligenzsteht der Mensch vor einem neuen Wendepunktin der Geschichte der Go-Spieltheorien. Schadeist allerdings, dass die geistige und emotionaleVerbundenheit – der sog. „hand-talk“ –zwischen den Spielern, die einen wesentlichenAspekt des Spiels darstellt, bei einem Matchmit der Maschine verloren geht und das Spieldadurch zu einer mathematischen Aufgabewird, bei der es auf Basis der Wahrscheinlichkeitsrechnungnur noch darum geht, zu siegen.Wie Lee bereits vor Matchbeginn bemerkte,„treten Computer ein Spiel an, ohne die wahreSchönheit des Spiels erkennen zu vermögen“.Die Niederlage Lee Se-dols bedeutet nicht,dass die Würde des Menschen in der Weltdes Go-Spiels abhanden gekommen ist. Auchbesteht kaum die Gefahr, dass das auf Go spezialisierteAlphaGo-Programm der KünstlichenIntelligenz schon bald in den Bereich des Menscheneindringen und die Kontrolle über dieMenschheit übernehmen könnte. Das Match alsgegen die Menschheit gerichtete Offensive derMaschine zu interpretieren, wäre eine übertriebeneFantasie. Wohl aber wurde bewiesen, dassdie Maschine in der Lage ist, Berechnungenanzustellen, wie sie der Mensch anstellt. DochMaschinen werden von Menschen bedient undsind so gesehen von den Intentionen des Menschenabhängig, d.h. letzten Endes geht es umdie Beziehungen zwischen Menschen. Es gehthier nicht um die Dichotomie von Mensch undKünstlicher Intelligenz oder eine Entscheidungzugunsten des einen oder andern, sondern umdie Suche nach einer angemessenen Koexistenzvon beiden. Wie am Flop des 3D-TV abzulesenist, können schlussendlich nur die Technologien,die den Menschen und seine Bedürfnisseverstehen, überleben. Damit bleibenalle wichtigen Angelegenheiten letzten Endes„Menschensache“.

Cho Hwan-gue Professor, Department of ComputerScience and Engineering,Pusan National University

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