Eulji-ro im Herzen von Seoul galt früher als Hochburg des verarbeitenden Gewerbes, und auch heute noch prägen viele der alten Werkstätten und Geschäfte die Gegend. Der Zuzug junger Kulturschaffender in den letzten Jahren hat nun da, wo Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen, einen interessanten Identitätswandel Eulji-ros eingeleitet.
Die labyrinthartigen Gassen von Eulji-ro beherbergen kleine Metallwerkstätten, Werkzeugläden und Druckereien aus den 1950/60er Jahren. Mit seinen alten, niedrigen Gebäuden spiegelt Eulji-ro 3-ga dieses Stadtbild am besten wider.
ⓒ Seol Dong-ju
Mit Einbruch der Dämmerung erwachen die Gassen von Eulji-ro 3-ga zum Leben, wenn junge Menschen in die vielen traditionsreichen Kneipen und Restaurants strömen, die die Geschichte der Stadt geprägt haben und inzwischen zu Hotspots geworden sind.
ⓒ SEOUL TOURISM ORGANIZATION
Eulji-ro ist weit weniger belebt als Gangnam, Myeong-dong oder Hongdae-ap und wird dennoch in den sozialen Netzwerken immer häufiger mit dem Hashtag „#hotplaces“ versehen. Bekannt ist das Viertel eigentlich für seine vielen kleinen Druckereien, Metallwerkstätten sowie Fachgeschäfte für etwa Fliesen oder Beleuchtung. Hier lautet das Motto: „Geht nicht, gibt’s nicht.“ Doch schlendert man ruhigen Schrittes durch die Gassen, fällt einem auf: Trotz der zentralen Lage Eulji-ros ist kein Convenience-Laden auszumachen, und selbst Starbucks oder McDonald’s sind lediglich auf der Hauptstraße oder an U-Bahn-Stationen zu finden.
Das, was die Gegend prägt, sind die eilig vorbeiknatternden Motorräder, das Fauchen der Schweißgeräte, der stechende Geruch von geschliffenem Stahl und nicht zuletzt die Lebensgeschichten derjenigen, die das Eulji-ro von heute mitgestaltet haben. Es sind diese Spuren der Vergangenheit, die auf junge Leute, die der Nostalgie erliegen oder das Besondere suchen, anziehend wirken.
Die Keimzelle der verarbeitenden Industrie
Im Zuge der Verwaltungsreform von 1914 noch als „Hwanggeum-jeong“ (Hwanggeum: Gold, jeong: kleinere Verwaltungseinheit) bezeichnet, erhielt das Viertel seinen heutigen Namen 1946 zu Ehren des legendären Generals des Goguryeo-Reiches (37 v. Chr.–688 n. Chr) Eulji Mundeok (6. – 7. Jh.). Anfang des 20. Jhs. formierte sich hier ein Viertel des verarbeitenden Gewerbes, und mit dem Florieren der Textil-, Lebensmittel- und Druckindustrie wurde Eulji-ro dann zu einem Zentrum von Handel und Gewerbe.
Nach dem Koreakrieg (1950–1953) ließen sich Geflüchtete in Eulji-ro und an dem nahe gelegenen Fluss Cheonggye-cheon nieder, und eine Hüttensiedlung entstand. Menschen unterschiedlichster Herkunft kamen, um hier ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie übernachteten in schäbigen Behausungen, während sie tagsüber an Ständen und Buden Waren aller Art verkauften. Dies waren v. a. Maschinen und Werkzeuge aus US-Militärstützpunkten, aber auch Altmetall aus der Nachkriegszeit. Die Händler wurden mit der Zeit so fachkundig, dass sie Werkzeuge und Maschinen selbst reparieren oder sogar herstellen konnten.
Für Handwerker von Eulji-ro schien nichts unmöglich zu sein, und es kursierte der Scherz, dass man nur eine Runde in Eulji-ro und am Cheonggye-cheon zu drehen bräuchte, um sich einen ganzen Panzer bauen lassen zu können. In jeder Gasse siedelten Hersteller von elektronischen Geräten, Metall, Glas, Beleuchtung, Keramik, Möbeln u. ä. und sorgten für eine weitere Belebung Eulji-ros. Während der Blütezeit in den 70er Jahren soll der Kundenandrang derartig groß gewesen sein, dass den Händlern nicht einmal die Zeit blieb, ihr Geld zu zählen.
Dann ging es abwärts. Als Südkorea Ende der 80er Jahre mit der verarbeitenden Industrie als Zugpferd einen Wirtschaftsboom erlebte, wurden viele Betriebe der Elektroindustrie als ungeeignet für die Innenstadt eingestuft, mussten folglich Eulji-ro verlassen und in die Außenbezirke ziehen. Hinzu kam der Verfall alter Wohngebäude und Einrichtungen aus dem frühen 20. Jh., was eine Welle an Stadtsanierungsprojekten nach sich zog. Jedoch kamen diese aufgrund von Problemen mit komplizierten Grundstücksumlegungen bis zum Anfang des neuen Millenniums nicht gut voran, mit der Folge, dass nur die Grundstückspreise in die Höhe schnellten.
Der Sewoon Plaza, einst Zentrum der Elektronikindustrie, wurde nach einem umfassenden Restaurierungsprogramm 2017 wiedereröffnet. Ein Teil davon ist das Sewoon Basement, ein umgebauter ehemaliger Heizungskeller, der nun als multifunktionaler Raum für Kurse, Ausstellungen und Workshops dient.
© Roh Kyung
Respekt vor dem Alten
Eulji-ro war nicht nur für die Industrie von Nutzen, es war auch ein Nährboden des künstlerischen Schaffens. Junge Künstler fanden hier leicht die notwendigen Materialien für ihre Kunst-, Film- und Theaterprojekte, und was fehlte, ließen sie sich kurzerhand anfertigen. Die Handwerker erfüllten ihre Wünsche, tauschten sich mit ihnen aus und waren gelegentlich in technischer Beratung für ihre Kultur- und Kunstprojekte tätig. Nicht zuletzt wurde der Bezirk attraktiv für die jungen Leute durch seine gute Erreichbarkeit der U-Bahnlinien 2, 3 und 5.
Gerade diese jungen Künstler waren es, die den Wert des im Verfall begriffenen Eulji-ros erkannten und einen Wandel herbeiführten. Schon seit Mitte der 2010er Jahre hatten sie ein Auge auf den Bezirk, um sich dort Ateliers, Ausstellungs- sowie Aufführungsräume einzurichten. Die vergleichsweise niedrigen Mietkosten waren kein unerheblicher Faktor. Noch wichtiger aber war das einzigartige Umfeld des Bezirks mit seiner Mischung aus schweißtreibender Betriebsamkeit, alten, von der Zeit gezeichneten Gebäuden und seinen labyrinthartigen Gassen.
Die Handwerker Eulji-ros tragen mit ihrem technischen Können zur Verwirklichung kreativer Ideen junger Künstler bei. Das Foto zeigt KNOT, SOUND ABOVE: einen Bluetooth-Lautsprecher mit Vakuum-Röhrenverstärker, der von above.studio in Zusammenarbeit mit Ryu Jae-ryong, einem erfahrenen Ingenieur für elektronische Steuerungen und Soundsysteme, entwickelt wurde. Das in Eulji-ro ansässige above.studio verfolgt bei seinem Design eine Ästhetik, die auf systematischen Prozessen beruht.
ⓒ above.studio
Das Besondere an den Arbeitsräumen der jungen Künstler ist, dass keines von ihnen wie ein Fremdkörper in Eulji-ro wirkt. Anstatt die angemieteten Ateliers oder Ausstellungshallen komplett zu renovieren, wurde zumeist auf die vorhandene Inneneinrichtung zurückgegriffen: Sowohl die dekorativen Backsteine als auch die alten Möbelstücke und nicht zu vergessen die Schilder der Geschäfte und Werkstätten blieben als Zeugen der Vergangenheit bestehen. So zollten die Künstler Respekt vor der Geschichte des Viertels, und es entstanden Räume, die das historische Gefüge Eulji-ros perfekt am Leben hielten.
Zur Entdeckungsreise in Eulji-ro gehört auch die 2018 eröffnete N/A Gallery. Versteckt in einer Gasse zwischen Schmiedewerkstätten in Eulji-ro 4-ga zählt die Galerie trotz fehlender Beschilderung zu den Vorreitern der lokalen Kunstszene. Abgebildet ist die Duo-Ausstellung Dinosavr von Yesul Kim und Rémi Lambert, die Anfang dieses Jahres stattfand.
ⓒ N/A Gallery
Das Innere des 2020 von KOLON FnC als Multimarken-Flagshipstore konzipierte Eulji Darak. Das für das Design zuständige LimTaeHee Design Studio legte Wert darauf, dass sich das Bauwerk in die vorhandene Umgebung einfügt. Die äußere Struktur des 20 Jahre alten Gebäudes blieb erhalten und das Innere wurde mit alten Möbeln, Dekorationen und Bodenbelägen ausgestattet.
Mit freundlicher Genehmigung von LTH; Foto: Yong Joon Choi
Die Geburt von „Hipjiro“
Die Künstler von Eulji-ro wagten viel bei dem Versuch, etwas Neues zu präsentieren, selbst wenn ihre Ausstellungen oder Aufführungen kaum Geld einbrachten. Sie experimentierten auch immer wieder damit, die geografischen und architektonischen Besonderheiten der Gegend in ihre Werke einzubeziehen, woraus die Bezeichnung „ortsspezifischer Content“ herrührt.
Kunst und Kultur nahmen allmählich auch auf das kulinarische Leben des Viertels Einfluss. Zwischen Ateliers und Galerien fügten sich mit der Zeit Läden, in denen man sich bei Tee oder Alkohol austauschen kann. Größtenteils bewahrten sie das Flair der ehemaligen Betriebe, und nicht wenige von ihnen verzichteten sogar auf ein Ladenschild. In Kürze wandelten sie sich zu integrierten Kulturräumen, was die Grenzen zwischen Restaurants, Cafés und Kneipen einerseits und Ateliers, Galerien und Aufführungsräume andererseits verschwimmen ließ: Restaurants wurden zur Kunstgalerie, Cafés bekamen eine temporäre Bühne. So ist es kein Widerspruch, in einer Bar beim Cocktail-Schlürfen etwa auf schön verarbeitete Handwerkskunst zu stoßen. In einem klar nach Sinn und Zweck geordneten Seoul fiel der Schmelztiegel Eulji-ro aus der Reihe und konnte sich dank Mundpropaganda zu einem Hotspot mausern. Es war die Geburt von „Hipjiro“ (hip+Eulji-ro).
Das langjährige Image als reines Arbeiterviertel ist passé. Eulji-ro ist dabei, sich eine neue Identität zu geben, bei der Technologie und Kunst, Altes und Neues in Harmonie koexistieren. Der besondere Charme Eulji-ros liegt in seinen verwinkelten Gassen, die zur Entdeckungsreise einladen und in denen sich stets neue, interessante Orte finden lassen.
59 Stairs Wine Bar, 5. Stock, 130-1 Sallim-dong. Byun Kyoung-rang. 2021. Pigmentdruck. 51 × 34 cm.
Eines der Werke bei Euljiro 2021, einer Fotoausstellung der Seoul Archive Photographers Group in der Y ART Gallery in Chungmu-ro. Byun Kyoung-rang geht es um die Schnittstellen von Alt und Neu mit einem Schwerpunkt auf Eulji-ros neuen Restaurants.
ⓒ Byun Kyoung-rang
Ace Four Club, nahe der Eulji-ro 3-ga Station, eine Cafébar in einem umgebauten 60 Jahre alten Teehaus. Den früheren Stammgästen zuliebe bewahrte der neue Besitzer, wie hier an der Eingangstür zu sehen, das Flair aus der Vergangenheit.
ⓒ Seol Dong-ju
The Ranch Brewing, versteckt in einer Gasse hinter der Eulji-ro 3-ga Station, lockt mit Craftbier und Pizza. Das farbenfrohe Graffiti und die Eingangstür im Stil eines Verkaufsautomaten ziehen v. a. junge Besucher an.
ⓒ Seoul Tourism Organization