An der Architektur des Stadtviertels Eulji-ro lassen sich weite Strecken der Geschichte Seouls ablesen: Bauten im westlichen Stil, die im Zuge der Entwicklung eines Handelsdistrikts zu Beginn des 20. Jhs. entstanden; eng aneinander stehende Gewerbsgebäude aus der Zeit des industriellen Aufschwungs; Hochhäuser als Zeugen der dynamischen Innenstadtsanierung der 1980er Jahre.
Der Sewoon Plaza ist mit über einem halben Jahrhundert Geschichte der erste Wohn- und Geschäftskomplex Koreas. Nach seiner Fertigstellung Ende der 1960er Jahre wurde es zum Symbol für das enorme Wirtschaftswachstum Koreas in den 1970er Jahren. 2023 gab die Stadt Seoul Pläne bekannt, den Komplex abzureißen und das Gelände in einen öffentlichen Park umzuwandeln. Das Foto zeigt das Dach des Jinyang Plaza, des südlichsten der sieben verbliebenen Gebäude.
© Roh Kyung
Die rund 3 km lange, sechsspurige Straße Eulji-ro durchquert das ursprüngliche Zentrum des Seouler Stadtbezirks Jung-gu. Sie reicht von dem kleinen Park des Altars Hwangudan aus der Zeit des Großkoreanischen Kaiserreichs (1897–1910) bis zur Hanyang Technical High School im Viertel Sindang-dong. Um das Verstehen mit bekannteren Namen zu erleichtern: Sie verläuft grob genommen vom Rathaus Seoul bis zum Mehrzweck-Kulturzentrum Dongdaemun Design Plaza. Parallel zur Eulji-ro verlaufen in Ost-West-Richtung die Cheonggyecheon-ro im Norden und die Toegye-ro im Süden. Auch die umliegenden Viertel wie Bangsan-dong, Sallim-dong, Ipjeong-dong u. a. werden gemeinhin als Eulji-ro bezeichnet.
Als führendes Handels- und Geschäftsviertel Seouls besticht Eulji-ro durch seine außergewöhnliche architektonische Vielfalt. Das Zusammenspiel von stilvollen Gebäuden der Moderne, alter Werkstätten mit Schieferdächern und hochgeschössigen Gebäuden sorgt für eine ganz spezielle Szenerie, die viel über die Geschichte Eulji-ros aussagt.
Ein historischer Querschnitt
Eulji-ro als städtischer Raum erscheint erstmals in der Joseon-Zeit (1392–1910). Mit der Ernennung zur Hauptstadt wurde die Stadt Hanseong (heute: Seoul) verwaltungsmäßig neu geordnet. Das heutige Gebiet Eulji-ro gehörte demnach dem Viertel Myeongcheol-bang des Südbezirks an und stieg nahe der Paläste quasi über Nacht zum Stadtzentrum auf.
In der späten Joseon-Zeit und während der japanischen Kolonialzeit (1910–1945) erlebte Eulji-ro eine neue Blütezeit. 1909 eröffnete auf der Eulji-ro 1-ga das zweistöckige Gebäude Gwangtonggwan im westlichen Stil – eine Filiale der mit nationalem Kapital gegründeten Cheonil Bank (heute: Woori Bank) –, das 2002 zum Denkmal der Stadt Seoul erklärt wurde.
Beim Umbau des Daeil Building in Eulji-ro 2-ga wählte das Designunternehmen dmp robuste Glasfassaden, um eine Harmonie mit dem 1909 erbauten Gwangtonggwan zu erzielen.
© Yoon Joon-hwan
1925 folgte das Gyeongseong-Stadion an der heutigen Stelle des Dongdaemun Design Plaza, und im Jahr darauf das Verwaltungsbüro Gyeongseong-bu auf der Taepyeong-ro 1-ga, das ab 1946 als Rathaus Seouls diente und seit der Errichtung eines Neubaus 2012 als Bibliothek genutzt wird. Somit befanden sich an beiden Enden von Eulji-ro bedeutende Einrichtungen. Ein weiteres markantes Bauwerk ist der 1928 errichtete Hauptsitz der Gyeongseong Electric Company (heute: Korea Electric Power Corporation) am Eingang von Myeong-dong. Ein für die damalige Zeit ungewöhnlich hohes, fünfstöckiges Gebäude, erstmals in Korea mit Erdbeben- und Brandschutz sowie einem Aufzug.
Mit Beginn der Moderne entstanden rund um die Eulji-ro 1-ga westlich inspirierte Gebäude, und diese architektonische Entwicklung sollte sich in den 1930er Jahren mit einer ersten Bauwelle von zwei- bis dreistöckigen Beton-Geschäftshäusern fortsetzen. Vor allem in den 50/60ern wurde der Ausbau massiv vorangetrieben, und auch heute noch sind viele von den alten Gebäuden zwischen Eulji-ro 3-ga und 5-ga erhalten geblieben. Charakteristisch für sie ist ihre dichte Bauweise, bei der die Gebäude oft nur weniger als 50 Zentimetern Abstand zueinander haben. Viele ihrer Fassaden sind mit Fliesen verkleidet, ein heute kaum verwendetes Fassadenmaterial, was die Gebäude zu einmaligen historischen Zeugnissen macht. Dem alten Baustil kontrastiv gegenüber steht auf der Eulji-ro 3-ga das 25-stöckige Bürogebäude Pine Avenue aus dem Jahr 2011. Eulji-ro ist ein Mosaik aus Bauwerken unterschiedlicher Zeiten, Stile und Höhen – ein wahres Freilichtmuseum der koreanischen Architektur der Moderne und der Gegenwart.
In Eulji-ro stehen viele Beton-Geschäftshäuser aus den 1950/60er Jahren eng beieinander. Ihre dichte Bauweise folgte den damaligen Bauvorschriften. Die Fliesenfassaden sind charakteristisch für die Architektur jener Zeit.
© Park Yong-jun
Der erste Wohn- und Geschäftskomplex Koreas
Nach dem Koreakrieg (1950–1953) erlebte Südkorea ein enormes Wirtschaftswachstum, und Eulji-ro stand an dessen Front und erfüllt heute noch seine Rolle. Den Ausgangspunkt bildete der Sewoon Plaza, Koreas erster Wohn- und Geschäftskomplex, entworfen von Kim Swoo-geun (1931–1986), einem renommierten Architekten der modernen koreanischen Architektur. Ursprünglich bestand der Komplex aus acht Gebäuden, darunter das Sewoon Plaza, das Daerim Plaza und das Jinyang Plaza. Nach dem Abriss des ältesten Gebäudes, des Hyundai Plaza, im Jahr 2009 stehen heute noch sieben Gebäude.
Zwischen 1966 und 1968 nacheinander errichtet, erstreckt sich der Sewoon Plaza vom Jongmyo-Schrein über einen Kilometer weit bis Pil-dong. Innerhalb der damaligen Mega-Einkaufspassage entstand ein riesiges Handelszentrum, das von Maschinen-, Werkzeug-, Elektroteilen bis hin zu Haushaltsgeräten alles anbot. In den Wohnungen oberhalb der Geschäfte gab es damals seltene Annehmlichkeiten wie Dampfheizungen und Badewannen, außerdem hatten die Bauten Aufzüge. Zusätzlich stand den Bewohnern Indoor-Golfanlagen und Saunas zur Verfügung. Die hoch aufragenden Luxus-Wohnkomplexe im Herzen von Seoul wurden schnell zu einem prächtigen Wahrzeichen der Stadt. Es hieß sogar, der Landbevölkerung reiche bei einem Ausflug nach Seoul schon der Anblick des Sewoon Plaza, um mit gutem Gewissen, das beste von der Stadt bereits gesehen zu haben, nach Hause zurückzukehren.
Das architektonische Highlight des Komplexes bietet der Daerim Plaza, der vom Strukturalismus, einem bevorzugten Architekturstil von Kim Swoo-geun, geprägt ist. Das Bauwerk gliedert sich in einen unteren Bereich, ein Fußgängerdeck, eine mittlere Ausbuchtung und einen oberen Bereich, wobei jeder Teil separat zugänglich ist. Den Erdgeschossbereich bereichert eine ungewöhnlich gestaltete Treppe, während die Verbindung zwischen Fußgängerdeck und Ausbuchtung durch vier schlanke Betonstützen getragen wird, die ebenfalls von ungewöhnlichem Aussehen sind. Mittig über der Ausbuchtung wurden Keramikscherben als Dekoration angebracht, was an den rauen, damals in Großbritannien populären Stil des New Brutalism erinnert.
Alle Gebäude des Komplexes verfügen über einen symmetrischen, rechteckigen Innenhof im 4. Stock, wo die Wohnungen beginnen. Diese zentralen Innenhöfe, die den Pioniergeist des Architekten Kim Swoo-geun zeigen, sind oft Schauplatz kultureller Veranstaltungen.
© Lee Kyung-hwan
Dynamische Hochhäuser
Als große Luxushotels wie Lotte, Westin Chosun, Plaza und President in den 70er und 80er Jahren eröffnet wurden, bildete sich zwischen dem Seouler Rathaus und der U-Bahn-Station Eulji-ro 1-ga eine Hotelmeile. Daneben fügten sich mit der Zeit Bankfilialen zu einer Finanzstraße zusammen, die den Hauptsitz der Bank of Korea im Süden mit dem Gwangtonggwan im Norden verband.
Das 1986 fertiggestellte Eulji Korea Building gilt mit seinen 20 Ober- und 4 Untergeschossen als ein repräsentatives Bürogebäude dieser Zeit. Die Vorderseite des Gebäudes ziert eine Vorhangfassade – eine Glaswand, die wie ein Vorhang an dessen Tragwerk angehängt und entfernt werden kann. Dies verleiht dem Bauwerk ein modernes Aussehen, während die Granitverkleidungen an den beiden Ecken für mehr Stabilität sorgen. Die Mitte des Gebäudes wurde zurückversetzt, um Balkonflächen zu schaffen, die das architektonische Erscheinungsbild gestalterisch bereichern. Der dahinter liegende sogenannte „Sky Plaza“ dient als öffentlich zugängliche Erholungs- bzw. Ausstellungsfläche. Sie war die erste ihrer Art in Korea, weshalb sie für großes Aufsehen sorgte.
Seit der Jahrtausendwende nahm die Stadtsanierung rund um die Eulji-ro 1-ga Fahrt auf. Der Abschnitt zwischen Eulji-ro 1-ga und Eulji-ro 2-ga beträgt nur wenige hundert Meter, doch bald drängte sich eine Vielzahl gläserner Hochhäuser dicht an dicht den Himmel empor. Besonders erwähnenswert: der 2010 fertiggestellte Ferrum Tower.
Das Gebäude mit seinen 28 oberirdischen und 6 unterirdischen Stockwerken besitzt eine quadratische Grundform, die Kontur ist jedoch von gewagten Schräglinien bestimmt, was das Haus noch futuristischer wirken und je nach Blickwinkel unterschiedlich aussehen lässt. Die Winkel sind zwar nicht allzu steil, zeugen aber vom mutigen Ansatz der Architekten, inmitten des harten Wettbewerbs um rentable Innenstadtsanierungsprojekte Flächenverluste zugunsten gestalterischer Erneuerungen in Kauf zu nehmen.
Die schrägen Flächen der Außenhülle wurden mit drei verschiedenen Vorhangwänden versehen, sodass sich die Gebäude in der näheren Umgebung in ihnen spiegeln und ein spektakulärer Anblick erzeugt wird. Zudem verleiht die seitlich abgewinkelte Dachkonstruktion des Hochhauses dem Viertel eine unverwechselbare Skyline. Sogar von den gegenüberliegenden Gassen aus ist der Turm gleich zu erkennen.
Erweitert man die Grenzen von Eulji-ro ein wenig, so stößt man im Süden auf die Myeongdong Kathedrale (1898), ein neugotisches Bauwerk aus der Zeit des Großkoreanischen Kaiserreichs, sowie die Yeongnak Presbyterianische Kirche (1950), das erste große christliche Gotteshaus Koreas. Im Norden begegnet man dem Hanwha-Gebäude, das sich infolge seiner Renovierung 2019 zu einer Attraktion entlang des Flusses Cheonggye-cheon entwickelt hat, und damit die architektonische Vielfalt des Viertels noch weiter verstärkt. Die historische Bedeutung ist ein wesentlicher Bestandteil jeder altehrwürdigen Stadt, und in Seoul wird diese Rolle von Eulji-ro par excellence verkörpert.
Der Ferrum Tower, nahe der Eulji-ro 1-ga Station, wurde so entworfen, dass seine Fassade, zur Unterstreichung eines dynamischen Unternehmensimage, je nach Blickwinkel anders wirkt. Das von Gansam Architects & Partners entworfene Gebäude erhielt 2011 den Excellence Prize der Korean Architecture Awards und der Seoul Architecture Awards.
© Gansam Co., Ltd.