Charaktere, mit denen der Zuschauer sich identifizieren kann, sind eine wesentliche Voraussetzung für den kommerziellen Erfolg von Filmen. In letzter Zeit porträtieren Regisseurinnen jedoch Protagonistinnen, die bisher keine breite Empathie und Unterstützung gefunden haben und eröffnen damit neue Sichtweisen auf das Funktionieren der Gesellschaft.
In An Old Lady (2019), dem ersten Film von Lim Sun-ae, spielt Ye Soo-jung die 69-jährige Hyo-jeong, die nachweisen soll, dass sie tatsächlich vergewaltigt wurde. Es ist der erste Film, der sich mit sexueller Gewalt gegen eine alte Frau befasst. © KIRIN PRODUCTIONS
Als in den 1970ern die beiden Filme Heavenly Homecoming To Stars (1974) und Yeong-ja’s Heydays (1975), jeweils Adaptionen der gleich¬namigen Romane von Choi In-ho bzw. Cho Seon-jak, zu Kassenschlagern wurden, erschienen etliche sog. „Hostess Filme“ in der Unterhaltungsindustrie für Erwachsene.
Während einige dieser Werke einen kritischen Blick auf die Realität warfen und für ihren künstlerischen Wert hochgeschätzt wurden, wichen sie selten von der üblichen Objektifizierung der Frauen ab. Dargestellt wurden meist Frauen aus armen, ländlichen Gegenden, die in die Städ-te ziehen und dort ihr Lachen und ihren Körper verkaufen, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Obwohl die Fil¬memacher behaupteten, dass ihre Werke Spiegel des realen Lebens seien, präsentierten sie selten eine weibliche Pers¬pektive. Das traf aber nicht nur auf Hostess Filme zu, viel¬mehr wurden Filme generell aus der männlichen Perspekti¬ve dargestellt.
Der Wandel, wiewohl langsam, erstreckte sich über Jahr¬zehnte und formierte sich zu einem unumkehrbaren Trend. Insbesondere in den letzten Jahren erschienen in von Regis¬seurinnen gedrehten Filmen bislang völlig unbekannte Typen von Frauen, die den jeweiligen Werken besonderen Tiefgang verleihen und so die Aufmerksamkeit wecken
Die Welt der Mädchen
The World of Us, der 2016 bei den Internationalen Film¬festspielen Berlin Premiere feierte, brachte Regisseurin Yoon Ga-eun auf verschiedenen Filmfestivals den Preis für den besten neuen Regisseur ein. Abgesehen von sei¬ner hohen Qualität, versetzte er der koreanischen Film¬welt in Bezug auf Inhalt und Stoff einen frischen Schock, denn bis dahin war es sehr ungewöhn¬lich, ein Grundschulmädchen als Haupt¬figur eines Films auftreten zu lassen. Es dominierte die stereotypisierende Vorstel¬lung, dass eine Grundschülerin als Prota¬gonistin maximal für einen Animations¬film geeignet sei und niemand sich für die Geschichte eines Mädchens ohne Weiteres interessieren würde. Der Vater der Hauptfigur Sun meint herablassend: „Was für Sorgen sol¬len Kinder denn schon groß haben?!“ – was impliziert, dass Erwachsene automatisch darüber hinwegsehen, dass auch Kinder manchmal einen höllischen Alltag haben und unter unaussprechlichen Qualen leiden.
Die Viertklässlerin Sun möchte sich gerne mit ihren Klas¬senkammeraden anfreunden, wird aber von ihnen ausge¬schlossen. Das isolierte Mädchen sieht einen Hoffnungs¬schimmer in der neu hinzugekommenen Schülerin Ji-a. Die beiden freunden sich während der Sommerferien an, und Sun träumt schon von einem völlig anderen Schulleben. Aber diese Hoffnung zerbricht jäh, als Ji-a sich den Klas¬senkameraden anschließt, die Sun gemobbt hatten.
Das Vortreffliche an diesem Film ist, dass das Phäno¬men Mobbing nicht wie allgemein üblich aus der dicho¬tomischen Sicht von Täter versus Opfer angegangen, oder als reines Gewaltproblem betrachtet wird. The World of Us stellt, anders als Filme mit männlichen Schülern, die typi-scherweise Gruppenschlägereien inszenieren, keine phy¬sische Gewalt dar, sondern vermittelt nachvollziehbar den psychischen Schmerz, unter dem Kinder leiden können. Den Kinobesuchern wird klar, wie ein Phänomen, das in jeder Gesellschaft, in jeder Gemeinschaft entstehen kann, sich in einer Grundschule entfaltet.
The World of Us (2016) unter der Regie von Yoon Ga-eun beleuchtet die Beziehungen unter Kindern aus der Perspektive eines Kindes. In ihrem 2019 herausgebrachten Film The House of Us wirft Yoon erneut einen nachdenklichen Blick auf die Welt aus der Sicht von Kindern. © CJ ENM; ATO Co., Ltd.
Our Body (2019) von Han Ka-ram erzählt über eine junge Frau, die von einer anderen Frau dazu inspiriert wird, mit dem Laufen anzufangen und so Kraft zu gewinnen, um ihr Leben neu zu erfinden. © KOREAN FILM COUNCIL
Ältere Frauen
An Old Lady, der erste Spielfilm von Regisseurin Lim Sun-ae, der auf dem Busan International Film Festival 2019 erstaufgeführt wurde, behandelt ein Thema, mit dem sich bis dahin noch kein koreanischer Film befasst hatte: Sexuel¬ le Gewalt gegen ältere Frauen. Dieser Film wurde zu ver-schiedenen Filmfestivals im Ausland wie dem Heartland International Film Festival und dem Amiens International Film Festival eingeladen, wo das Werk für seine subtile und schmerzlich ergreifende Darstellung einer bislang kaum bekannten Thematik gelobt wurde.
Die 69-jährige Hauptfigur Hyo-jeong wird während einer Behandlung im Krankenhaus von einem Pflegehelfer ver¬gewaltigt. Ihre Beschuldigung, dass ihr von einem jun¬gen Mann in seinen Zwanzigern sexuelle Gewalt angetan wurde, wird von allen abgetan. Der Mann behauptet, dass es sich um einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehandelt habe, weshalb ein Haftbefehl immer wieder abgewiesen wird. Hyo-jeong fragt ohne Umschweife: „Hätte man den Täter denn auch dann laufen lassen, wenn es sich bei der Klägerin um eine junge Frau gehandelt hätte?“
Bislang zählten ältere Frauen nicht zur Gruppe der sozi¬al Schwachen. Mit diesem Film will Regisseurin Lim das Publikum dazu bringen, ihre vorgefassten Meinungen in Bezug auf sexuelle Gewalt und Frauen zu hinterfragen. Als der Kriminalpolizist meint, Hyo-jeongs Aufmachung sei „zu gut für eine alte Frau“, erklärt sie, dass sie ansonsten nicht beachtet und nur belästigt würde, und fragt: „Sehe ich in dieser Aufmachung sicher aus?“ Diese Szene legt offen, dass es Menschen gibt, die sich sogar durch ihre Kleidung „verteidigen“ müssen. Der Film betont, dass man mit Vor-urteilen brechen muss, um die wahren Umstände eines Vor¬falls aufdecken zu können.
Hyo-jeong hat einen Freund, mit dem sie zusammenlebt, und der fast der Einzige ist, der auf ihrer Seite steht, aber der Film schwenkt nicht in die Richtung, den Konflikt zu einem Kampf unter Männern zu machen. Vielmehr macht sich Hyo-jeong eigenhändig auf die Suche nach dem Täter. Damit stülpt die Regisseurin das Vorurteil um, dass eine Frau Probleme nur mit Hilfe eines Mannes lösen kann.
Sich der eigenen Wünsche bewusst werden
Our Body (2019), der Debütfilm der Regisseurin Han Ka-ram, thematisiert, wie eine Frau von einer anderen inspiriert werden kann. Noch signifikanter ist, dass das Thema des Begehrens in äußerst provokativer Weise aufgeworfen wird.
Der Film beginnt mit der Szene, in der die 31-jährige Ja-young, die seit acht Jahren das Staatsexamen für Verwal¬tungsbeamte zu schaffen versucht, von ihrem Freund ver¬lassen wird. Eines Tages trifft sie, die keine Lebenslust und Lebensziele mehr hat, beim Joggen auf Hyun-joo. Die Pro¬tagonistin Ja-young, die auch so eine Figur wie die attrak¬tive und gesunde Hyun-joo haben möchte, wird Mitglied des Laufclubs, in dem Hyun-joo aktiv ist. Auf den ersten Blick scheint es sich zwar um eine Reproduktion des gän¬gigen Klischees über das Aussehen von Frauen zu handeln, der Film geht jedoch der Suche nach dem Sinn des Lebens nach. Schließlich verweigert sich Ja-young den ihr von außen aufoktroyierten Wünschen nach Erfolg und Aufstieg und wird sich ihrer eigenen Bedürfnisse bewusst.
Moving On (2020), ein Film von Yoon Dan-bi, der auf mehreren internationalen Filmfestivals Preise gewann, beschreibt die feinen und komplexen Emotionen von Geschwistern, die Sommertage in einem Mehrgenerationen-Haushalt verbringen. © ONU FILM
Erweiterung der Narrative
Moving On (2020), der Debütfilm von Yoon Dan-bi, uraufgeführt auf dem Busan International Film Festival 2019, gewann auf Anhieb Preise in vier Kategorien. Aber das war erst der Anfang. Es folgte der Osler Best Feature Film Award auf dem 24. Toronto Reel Asian Internatio¬nal Film Festival und der Preis Best Film der International Federation of Film Critics (FIPRESCI) auf dem 38. Torino Film Festival. Die Juroren des Toronto Reel Asian Interna¬tional Film Festivals begründeten ihre Wahl folgenderma¬ßen: „Die Jury war beeindruckt von Debütregisseurin Yoon Dan-bis Darstellung der subtilen und komplexen Bezie¬hungsdynamik in einer Drei-Generationen-Familie. Moving On erzählt durch kleine Gesten und ruhige, aber ergreifende Szenen der Freude, Veränderung und Trauer über die Liebe in der Familie.“ Der Film erhielt auch den New Talent Award auf dem 17. Hong Kong Asian Film Festival, der an junge, bemerkenswerte Filmemacher vergeben wird.
Hauptfigur des Films ist die Teenagerin Okju, die einen in finanzielle Bedrängnis geratenen Vater und einen jünge¬ren Bruder hat. Zu Beginn des Films ziehen die drei Hals über Kopf zu ihrem kränkelnden, alleine lebenden Gro߬vater, kurz darauf kommt auch noch eine Tante hinzu, der die Kinder leid tun. Inmitten der Höhen und Tiefen des all¬täglichen Lebens entwickeln sich ganz besondere emotiona¬le Bande in diesem Mehrgenerationen-Haushalt. Das Werk verwebt Momente aus Jugend- und Erwachsenenjahren von Vater und Tante, wobei die Jahrzehnte dazwischen wie aus¬gelöscht erscheinen und Vergangenheit und Gegenwart sich überschneiden.
Während die zuvor erwähnten Filme im ernsten Ton gesellschaftliche Konventionen oder Vorurteile in Frage stellen, lädt Moving On das Publikum dazu ein, den Reife¬prozess des Mädchens zu beklatschen und emotional in die Geschichte einer durchschnittlichen Familie einzutauchen. Insgesamt gesehen erweitern Frauen in der Regieführung die Palette der Narrative durch neue Ausdrucksmittel und eine subtile Darstellung von Hauptfiguren, denen bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden war.