Federzeichnerin Lee Me-Kyeoung fühlt sich zu Dingen hingezogen, die am Verschwinden sind. In den letzten 20 Jahren war sie im ganzen Land auf der Suche nach alten Kleinläden, die zu symbolischen Orten des „Verfalls und Aussterbens“ geworden sind. Mit feinen, zarten Federstrichen fängt sie die jahrzentealten Geschichten dieser Tante-Emma-Läden und der Menschen, die ihr Leben mit ihnen verbracht haben, ein.
Je Family Store (2018). Feder und Acryltinte auf Papier, 75 × 135,5 cm.
Lee Me-Kyeoung hat einen kleinen Höcker am ersten Mittelfingerglied ihrer rechten Hand. Es ist eine Erinnerung an all die Jahre, die sie damit verbracht hat, einen Stift mehr als 10 Stunden pro Tag zu halten und Tausende oder gar Zehntausende von Linien zu zeichnen. Jeden Morgen, wenn sie in ihr Atelier kommt, wird sie zu einer „Arbeiterin“, die ihr Werkzeug in die Hand nimmt. Wisch, wusch... Das Geräuch der übers Papier gleitenden Federspitze belebt sie. Ihre Tage verfließen in Harmonie mit den sich wiederholenden Strichen ihrer Feder.
„Federzeichnungen lassen sich nicht mit halbherzigem Kraftaufwand schaffen“, sagt Lee. „Pinselstriche sind kein Vergleich zu der Textur, die von unzähligen Schichten ultrafeiner, delikater Federlinien erzeugt wird. Ich kombiniere 28 Acryltinten und zeichne so, als ob ich die verschiedenen Farben schichtweise auftragen würde. Auf diese Weise erscheint die Farbe darunter hell und deutlich. Die Farben wirken solide, aber nicht zu dick, ganz so wie der ungekünstelte Charme der kleinen, von den Zeitläuften verschlissenen und verwitterten Eckläden. In diesem Sinne passen Inhalt und Form sehr gut zusammen.“
Lee studierte westliche Malerei an der Hongik Universität, als der deutsche Neoismus die Kunstwelt bestimmte. An manchen Tagen verbrachte sie die ganze Nacht im Arbeitsstudio und produzierte vier großformatige Gemälde. Es war reiner Zufall, dass sie zur Federmalerei wechselte, einer Kunstform, die akribische Detailliertheit verlangt. Im Sommer 1997, als sie mit ihrem zweiten Baby schwanger war und das erste, gerade zwei Jahre alte Kind aufzog, verließ sie Seoul, um in die nahe gelegenen Stadt Gwangju, Provinz Gyeonggi-do, zu ziehen. Es war dort, dass sie in einem Dorf einen Tante Emma Laden sah, der die ganze Zeit auf sie gewartet zu haben schien.
„Im ersten Frühling nach der Geburt meines zweites Kindes saß ich wieder mit dem Stift in der Hand vor der Leinwand und begann auf der Suche nach einem neuen Anfang wahllos Dinge zu zeichnen“, erinnert sich Lee. „An einem herrlichen Tag, als die Kirschblütenblätter wie Schneeflocken fielen, machte ich noch einmal einen Ausflug zu dem Eckladen. Ich war lange nicht mehr dort gewesen und er erschien mir fremd und wunderlich anziehend zugleich. Das rotbraune Schieferdach veränderte je nach Tageszeit subtil seine Farbe und der Schriftzug ‚Getränke‘, der in roten Lettern auf das Fenster geschludert worden war, hatte etwas Stilvolles.“
Ein Thema, das das Herz schneller schlagen lässt
Sie ging nach Hause und wartete, bis die Kinder schliefen, bevor sie zu zeichnen begann. Nach langem hüpfte ihr Herz wieder einmal vor Freude und Begeisterung. Der ständige Druck, etwas zeichnen zu müssen, hatte schwer auf ihr gelas- tet. Aber plötzlich fühlte sie sich frei von Leiden und Unruhe.Endlich hatte sie das Thema gefunden, das ihr am Herzen lag und ihr Lebenswerk werden sollte. „Das ist es! Das ist das, was Kunst ausmacht“, wurde ihr klar. Während sie auf den nächsten Laden wartete, der ihr Herz erobern würde, zeichnete sie langsam und gemächlich. Daher konnte sie in den ersten zehn Jahren nicht mehr als 15 Arbeiten fertigen.
Wann immer sie von einem „richtig alten Tante-Emma-Laden“ hört, macht sie sich sofort auf dem Weg dorthin. Ein einmaliger Besuch reicht nicht. Denn sie möchte den Charme des Ladens voll und ganz erfassen, den Wandel zwischen Tag und Nacht, von der einen Jahreszeit zur anderen. Auch wenn sie Dutzende von Fotos macht, bleibt immer ein Detail unerfasst.Es ist auch etwas völlig anderes, den Laden mit den Augen zu betrachten oder mit dem Herzen wertzuschätzen. Als sich herumsprach, dass sie Ecklädchen zeichnet, versorgten viele Leute sie mit Hinweisen auf Nachbarschaftsläden. So erhielt sie z.B. vor einigen Jahren folgende SMS von einem Bekannten:
„Liebe Frau Lee, der Eckladen Yusim in unserer Nachbarschaft schließt bald. Wenn sie noch keine Fotos davon gemacht haben, sollten Sie sich beeilen.“
„Ich war schon ein paar Mal im Yusim gewesen“, erinnert sich Lee. „Die über 80 Jahre alte Besitzerin, die den Laden über 50Jahre geführt hatte, schien das Geschäft endgültig aufgeben zu wollen. Der Gedanke, dass ein weiterer alter Eckladen in Seoul zumachen würde, ließ etwas in mir zusammenbrechen.“
Es gab auch Läden, die beschädigt, verändert oder durch eine neue Einrichtung ersetzt wurden, noch bevor sie mit ihrer Zeichnung fertig war. Auch passierte es oft, dass sie einen Laden, von dem sie gehört hatte, besuchte, nur um dann festzustellen, dass er schon aufgegeben worden war. Den Untergang der Tante-Emma-Läden bedauernd, meint Lee: „Es stimmt traurig, daran zu denken, wie viel wir im Namen von Wachstum und Entwicklung geopfert haben.“
Um die Textur einer typischen Feder- und Tuschezeichnung zu schaffen, müssen Tausende bis Abertausende feiner Federstriche aufeinander geschichtet werden. Lee Me-Kyeoung arbeitet über 10 Stunden pro Tag an ihren Malereien, was ihr chronische Schmerzen im rechten Mittelfinger eingebracht hat.
„Ich möchte die Geschichten, die in meinem Gedächtnis haften geblieben sind, mit anderen teilen, mich gemeinsam mit anderen erinnern.“
„Wenn ich die Sammlung meiner in den letzten 20 Jahren gemachten Zeichnungen durchgehe, sehe ich, wie unterschiedlich Gebäudestruktur, Dachform und Baumaterialien je nach Region sind“, sagt Lee. „Ich habe mir angewöhnt, mir vorzustellen, wie ein Laden wohl bei seiner Eröffnung mal ausgesehen haben könnte. So kamen Schieferdächer z.B. in den frühen 1970er Jahren im Rahmen der Saemaeul (Neues Dorf) Bewegung auf, die von der Regierung zur Modernisierung der ländlichen Gebiete vorangetrieben wurde. Ich bin sogar auf japanische Holzhäuser mit hohen Dächern gestoßen, die während der japanischen Kolonialherrschaft gebaut wurden. Es dürfte äußerst interessant sein, einmal die verschiedenen Dächer in meinen Zeichnungen miteinander zu vergleichen. Sie weisen darauf hin, wie wichtig es ist, den Wert des Bewahrens und Wiederbelebens von Vergangenem nicht zu vergessen und die verbreitete Gewohnheit, Altes ohne Wenn und Aber durch Neues zu ersetzen und zu beseitigen, zu zügeln.“
Pungnyeon Supermarket (2017). Feder und Acryltinte auf Papier, 35 × 35 cm.
Die Lädchen und ihre Besitzer, auf die sie während ihrer landesweiten Suche gestoßen ist, leben in Lees Zeichnungen fort. Da niemand weiß, ob es ein weiteres Wiedersehen geben wird, sind ihre langsam und gewissenhaft geschaffenen Federzeichnungen gleichsam ein Archiv mit Zeugnissen einer Ära.
Erinnerungen für jedermann
„Manche Leute fragen, warum ich auf aus unserem Leben Verschwindendes fixiert bin und was für einen Sinn es hat, in Nostalgie versunken zu bleiben“, sagt Lee. „Ich möchte die Geschichten, die in meinem Gedächtnis haften geblieben sind, mit anderen teilen, mich gemeinsam mit anderen erinnern. Ich möchte vorschlagen, dass wir uns unserer Umgebung bewusster werden und nicht die Gelegenheit verpassen, die kleinen und einfachen Dinge in unserem Leben wirklich wahrzunehmen. Ich möchte in meinen Zeichnungen all jene Dinge darstellen, die zärtliche Gefühle hervorrufen und alltägliche Geschichten aus dem gewöhnlichen Leben erzählen, Geschichten über einen freundlichen Eckladen in der Nachbarschaft, die warme Umarmung der Mutter, einen Nähkorb oder altes Geschirr.“
Eckläden sind für Lee mehr als nur einfache Gebäude. Jeder Laden hat seinen eigenen Charakter, genau wie ein Mensch. Sie erinnert sich noch an einen namenlosen Laden, auf den sie bei einem Besuch des Dorfes Ttangkkeut an der südlichsten Spitze der koreanischen Halbinsel zufällig gestoßen war. „Ich war auf der bergauf führenden Landstraße 806 neben dem Tempel Mireuk-sa, als ich den Laden entdeckte“, erzählt sie. „Auf den ersten Blick konnte ich erkennen, dass es ein geschichtsträchtiger Ort war, gezeichnet von all den vielen Freuden und Leiden der Zeitläufte.“
Lautlos und still unter dem dunklen Abendhimmel sitzend, war dieser Laden Inbegriff aller Eckläden, nach denen Lee landesweit gesucht und die sie dokumentiert hatte. Als die Dunkelheit sich zu senken begann und der Himmel sich tief violettblau färbte, traten die hinter dem Laden dicht an dicht stehenden Bäume, ihre majestätische Existenz offenbarend, wie ein Paravent hervor und enthüllten den wahren Charakter des Ladens.
Winter in Sancheok (2017). Feder und Acryltinte auf Papier, 80 × 80 cm.
„Der Schein der Straßenlaterne neben dem Laden und das warme, fluoreszierende Licht, das durch die Fenster strömte, erinnerten an die leuchtenden Augen eines Wärme ausstrahlenden Heiligen“, sagt Lee. „Diese geheimnisvolle Atmosphäre, die durch die Schatten der Nacht und das glühende Lampenlicht entstand, ist Ausdruck der wehmütigen Schönheit, die so typisch für einen heruntergekommenen Kleinladen ist. Diese Schönheit ist das Leitmotiv meiner Arbeiten.“
In Lees Eckläden-Zeichnungen sind immer Bäume zu sehen. Sie tragen im Einklang mit der jeweiligen Region und Jahreszeit ein unterschiedliches Gewand, sodass sie mit dem Laden harmonieren. So wie jeder Mensch eine Familie hat, so muss jeder Eckladen mindestens einen Baum haben, denkt Lee. Die Zeit in ihren Zeichnungen steht still, aber die Bäume wachsen weiter. Je älter der Laden, desto größer der Baum, der wie ein guter alter Freund aufrecht neben ihm steht.
„Vor zehn Jahren besuchte ich den Eckladen Seokchi Sanghoe in Gunsan in der Provinz Jeollabuk-do. Er war gewissermaßen der Archetypus eines Eckladens und schien einer meiner Zeichnungen entsprungen zu sein“, berichtet Lee. „Auf der linken Seite des Ladens standen zwei große Bäume, von denen eine seltsame Harmonie ausging. Der grauhaarige Ladenbesitzer, der einem taoistischen Unsterblichen glich, erzählte mir die Geschichte der 40 Jahre, die er mit dem Laden verbracht hatte.
Die lebenslange Hingabe eines Menschen an ein und dieselbe Sache hatte etwas tief Bewegendes. Später hörte ich, dass der Laden ein paar Jahre nach meinem Besuch geschlossen hat.
Nur die beiden Kastanienbäume stehen noch. Wie eine Familie werden sie sich an den Laden und seinen Besitzer erinnern und ihre Geschichten weitergeben.“
Fein und lang, langsam und voll
Im März 2017 stellte die BBC zehn von Lees Zeichnungen in dem Artikel In Bildern: der Charme von Südkoreas verschwindenden Eckläden vor. Außerdem wurde sie für Mai 2018 eingeladen, ihre Werke auf der Tokyo International Art Fair auszustellen. Ihre Federzeichnungen von Tante-Emma-Lädchen, die ursprünglich für das einheimische Publikum gedacht waren, haben die Aufmerksamkeit globaler Kunsthändler und Kunstliebhaber auf sich gezogen. Ihr Buch Die Zeiten der Eckläden, als das Glück nur einen Groschen kostete, das 80 ihrer Zeichnungen und die Geschichten dahinter enthält, ist sehr beliebt.
Es wurde im Juni 2018 in Frankreich und Taiwan veröffentlicht, eine japanische Übersetzung ist in Arbeit. Für Oktober steht eine Einzelausstellung in Seoul auf dem Plan.
„Ausstellungen sind keine einfache Angelegenheit, da das Zeichnen so viel Zeit und Mühe erfordert“, sagt Lee. „Es verlangt viel Ausdauer und Kraft, weshalb ich das Arbeitstempo regulieren und auf meine Gesundheit achten muss. Daher möchte ich im nächsten Jahr alles etwas ruhiger angehen lassen und ein wenig entspannen.“ In der Zwischenzeit gibt es eine Menge Arbeit. Lee will ihre hier und da verstreuten, rund 200 Eckläden-Zeichnungen ordnen und plant dazu noch, alte Buchhandlungen zu zeichnen.
Aber sie sagt, dass sie sich dabei nicht hetzen lassen möchte und fügt hinzu: „Fein und lang, langsam und voll – das ist die Weisheit des Lebens, die die Federkunst mich gelehrt hat.“