Choi Wook, Leiter des Architekturbüros ONE O ONE architects, sagt, dass sich die koreanische Architektur im Gegensatz zur westlichen nicht ikonografisch beschreiben ließe. In seinen Arbeiten geht es ihm um die Verkörperung koreanischer Ausdrucksformen. Er interessiert sich wenig für visuell-formale Schönheit, sondern versucht beständig, durch Erleben und Intuition der koreanischen Kultur inhärenten Raumstrukturen zu erschließen.
Choi Wook ist ein Architekt, der mehr Wert auf den räumlichen Aufbau als auf die visuelle Form legt. Für ihn ist die Beziehung zwischen Gebäude und Umgebung sowie die Kommunikation zwischen Innen und Außen wichtig.
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Der im November 2021 im National Museum of Korea erröffnete „Raum der stillen Kontemplation“ dient der Ausstellung zweier vergoldeter, als Nationalschatz Nr. 78 und 83 gekennzeichneter Maitreya-Bronzestatuen. Museumsbesucher schreiten zunächst durch einen abgedunkelten Eingangsbereich, bis sie dann inmitten eines in erdenen Brauntönen gehalten Raumes von dem feinen, bei Koreanern so beliebten Lächeln der Bodhisattvas begrüßt werden.
Der Ausstellungsraum kann mit einem besonderen Konzept aufwarten: Er ermöglicht die 360-Grad-Betrachtung der Nationalschätze außerhalb von Vitrinen, bei gleichzeitger Berücksichtigung ihrer Sicherheit. Sowohl die historische Bedeutung und der Wert der Buddha-Statuen wird bewahrt als auch eine neue Ausstellungsform umgesetzt. Dem Besucher vermittelt sich ein Raumgefühl, Ort und Zeit zu transzendieren. Bei einer Länge von 24 m entspricht der Raum der Größe eines kleines Theaters, in dem man die Gesichtsausdrücke der Schauspieler deutlich ablesen kann. Die beiden versetzt angeordneten Statuen stehen jeweils auf ovalen Sockeln. Boden und Decke sind zu den Statuen um etwa 1 Grad geneigt, während die Wände mit Licht absorbierenden natürlichen Materialien wie Erde und Holzkohle beschichtet sind, was die vergoldeten Bronzestatuen umso mehr erstrahlen lässt.
Aus feuerschutztechnischen Gründen wählte man für die Decke Aluminiumstäbe, die in dichter Anordnung senkrecht herunterhängend den Eindruck eines imposanten Nachthimmels erwecken.
„Ich wollte weg von einem visuellen Mittelpunkt, auf den alles zuläuft. Ohne ihn bewegen sich die Menschen natürlich, wie bei einem Gebets-Rundgang um eine Pagode bei feierlichen Anlässen wie Buddhas Geburtstag. Es sollte keiner strengen geometrischen Logik gefolgt, sondern eine spirituelle Atmosphäre vermittelt werden.“
Mit seinem Design entfernt sich Architekt Choi Wook von dem westlichen Prinzip der Perspektive und offenbart eine neue Methode, das Gefühl des leeren Raums konkret zu gestalten.
Der „Raum der stillen Kontemplation“ im National Museum of Korea besticht durch seinen innovativen Ausstellungsansatz: Er ermöglicht einerseits die 360-Grad-Betrachtung der beiden Bodhisattvas, anderseits wird ein präzise berechneter Sicherheitsabstand zwischen Besuchern und Exponaten gewährleistet.
Mit freundlicher Genehmigung von ONE O ONE architects; Foto: Kim In-chul
Die Erkundung koreanischer Architektur
„Ich habe am Istituto Universitario di Architettura di Venezia (heute Università Iuav di Venezia), eine der damals angesehensten Universitäten in Europa, studiert. Es war ein Sammelbecken von progressiven Intellektuellen und bedeutenden Wissenschaftlern in der Architektur. Durch das Studieren der westlichen Architektur, die auf Logik und Rationalismus basiert, wurde mir klar, wie sehr sich dieses System von dem in Korea unterscheidet. Mit der Renaissance begann perspektivisches Denken den Raum zu bestimmen, bei dem der Gestaltung der Gebäudefassade große Bedeutung zukommt. Aber in der koreanischen Architektur schien mir die Fassade keine so wichtige Rolle zu spielen, da es ein anderes System gibt.“
Während seiner Zeit in Italien, auf den Stufen der Palladio-Bibliothek in Vicenza konfrontierte ein Musiker Choi einmal mit einer interessanten Frage.
„Er fragte mich, ob die koreanische Musik nicht seltsam sei. Während die westliche Musik durch das Interagieren der Töne Harmonien erzeuge, liefen die fünf Töne der Pentatonik der koreanischen Musik nebeneinander, ohne sich wirklich zu treffen. Später verstand ich das koreanische Prinzip als eine Welt der Nebeneinanderstellung. Es unterscheidet sich enorm von der Komposition der westlichen Musik.“
Chois Bedürfnis koreanische Architektur besser zu verstehen, wurde nach und nach gestillt, als er nach seiner Rückkehr in die Heimat eine Reihe von Architekturexkursionen unternahm. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf den traditionellen stufigen Gebäude-Unterbau Gidan, der im Einklang mit den natürlichen Gegebenheiten des hügelreichen Landes steht. Auch faszinierten ihn die kleinen zusammengruppierten Hanok-Häuser auf vielen kleinen Parzellen. Mit Entsetzen musste er mit ansehen, wie Anfang der 2000er Jahre aufgrund von Stadtentwicklungen diese traditionelle Gebäudeform im Seouler Viertel Bukchon rasant zu verschwinden drohte. So richtete er sein Büro in einem Hanok in genau diesem Viertel ein, erlebte und beobachtete direkt die Eigenschaften des Hauses. Und diese Erkundung führte bald zu Ergebnissen.
Bei den Bauwerken der Library-Serie von Hyundai Card wie bei den Gebäuden Hyundai Card Design Library (2012) und Hyundai Card Cooking Library (2016) konzentrierte er sich auf die Sinne, die der Raum selbst durch Licht, Klang und Geruch bietet. Beim 2013 errichteten Hyundai Card Yeongdeungpo Office Building ließ er die Grenze zwischen Innen- und Außenraum verwischen, indem er den Boden des Foyers bis in den Aussenbereich erweiterte. Beim Entwurf von vielen der hohen Gebäude war es ihm ein Anliegen, den Bereich der unteren Stockwerke unter Berücksichtigung des Oberflächenverlaufes des umliegenden Geländes nach dem Gidan-Prinzip zu gestalten, während die Fassade so schlicht ausfällt, dass der obere Teil des Gebäudes kaum Präsenz besitzt. Aus allen Richtungen fällt Licht in das Foyer, so dass im Inneren keine Schatten entstehen und klare Helligkeit herrscht. Es ist Chois Versuch, in der westlich orientierten modernen Architektur einen koreanischen Ansatz zu verfolgen, der durch persönliche Erfahrung erlebbar wird.
Das Gebäude Hyundai Card Design Library in Gahoe-dong, das ursprünglich eine Galerie beherbergte, wurde von Choi Wook mit der Intention umgestaltet, die Schönheit der Leere hervorzuheben. Großflächige Fensterpartien an drei Seiten des Innenhofes sorgen für vermehrten Lichteinfall, während Materialien wie Holz und Edelstahl elegante Kontraste erzeugen.
Mit freundlicher Genehmigung von ONE O ONE architects, Foto: Namgoong Sun
Das Hyundai Card Yeongdeungpo Office Building wurde so entworfen, dass es sich in die Umgebung einfügt. Der Boden des Foyers wurde bis in den Aussenbereich erweitert, wodurch die Grenze zwischen Innen und Außen verwischt wird, während die Vorhangfassade das Gebäude mit den Strukturen in der Umgebung in Einklang bringt.
Mit freundlicher Genehmigung von ONE O ONE architects, Foto: Namgoong Sun
Raumverläufe
„In der traditionellen Architektur Koreas prägen der Querschnitt des Geländes und der stufige Unterbau Gidan den Charakter und die Größe des Raumes und bestimmen auch den Bewegungsverlauf der Menschen. Es mag banal klingen, aber als Erstes geht es uns um ein Verständnis für Boden und Umgebung. Wir versuchen dann die Beziehung zwischen dem Gründstück und Gebäude zu setzen, d. h. fließende Querschnitte herzustellen. Es ist sehr wichtig, Bodenbeschaffenheit sowie Temperatur und Farbe des Raumes aufeinander abzustimmen.“
Sulwhasoo, die Traditionsmarke des Kosmetikherstellers Amorepacific, eröffnete 2022 in Gahoe-dong, Seoul, ihr Flagship-Store Gahoe-dong Duzip, an dem Chois architektonischer Ansatz deutlich zu erkennen ist. Bei diesem Projekt ging es um die Renovierung eines modernen Hanok aus den 1930er Jahren und eines Hauses westlichen Stils aus den 1960er Jahren. Wichtig war nicht bloß die Integration zweier Gebäude unterschiedlichen Zeitalters und Stils, sondern v. a. die Gestaltung des Raumverlaufes bei Zusammengruppierung von Gebäuden.
Man entschied sich, dem ursprünglichen Bodenverlauf des Hanok zu folgen, und riss eine rund 6 m lange Mauer am hinteren Teil des Innenhofes ab, um eine Öffnung zu dem höher gelegenen Haus im westlichen Stil zu schaffen. Die Verbindung zwischen den beiden Ebenen gelang schließlich durch den Bau eines Kellers im modernen Haus. Das war zwar keine leichte Aufgabe, aber dadurch konnte das strukturelle Problem gelöst werden. Nach reiflichen Überlegungen, wie man die Besonderheiten eines Hanok noch deutlicher hervorheben könnte, installierte man transparente Glastüren und Fenster, die den Blick durch den offenen Raum zwischen den zwei Gebäuden schweifen und den Besucher – wie Choi es ausdrückt – mit jedem Schritt eine neue Szenarie entdecken lässt. Es ist wie ein Spazierweg, der die Sinne anregt.
Das Gahoe-dong Duzip spiegelt das Interesse des Architekten an der Verwirklichung eines Raums im koreanischen Stil wider. Ein bereits bestehendes Hanok und ein Gebäude im westlichen Stil wurden miteinander verbunden, indem die Mauer zwischen beiden Gebäuden beseitigt und ein Innenhof geschaffen wurde.
Mit freundlicher Genehmigung von ONE O ONE architects; Foto: Kim In-chul
Einzigartige DNA
Chois Ansichten zur Architektur konkretisierten sich immer mehr, als er unter dem Sponsoring der Hyundai Card Domus Korea, die koreanische Edition des italienischen Architektur-Magazins Domus zu publizieren begann. In den insgesamt zwölf Ausgaben, von der Erstausgabe im November 2018 bis zur Herbstausgabe 2021, wurden die von Choi lange Zeit erforschten Merkmale der koreanischen Architektur behandelt und von verschiedenen Kritikern, Künstlern und Architekten kommentiert. Im Zuge dieser Arbeit gelang Choi die Ausarbeitung von Schlüsselwörtern wie Land, Boden, Nebeneinanderstellung, Zusammengruppierung und Gefühl der Leere.
„Man kann sagen, dass es um die Respektbekundung eines in diesem Land lebenden Menschen geht. Im Mittelpunkt meines Interesses steht weniger das große Konzept ‚Korea‘, als vielmehr die kulturelle DNA des Landes.“
Choi Wooks Arbeit beginnt mit seinem Verständnis für den Boden und versucht dann, dessen Charakter auf bestmögliche Weise in der Architektur widerzuspiegeln. Seine Vorgehensweise ist nicht durch ein logisches System zu erklären, sondern beruht auf Erleben und Intuition. Realisiert wird diese zunächst vage klingende Konzeption aber durch konkrete Berechnungen und gründliche Konstruktionen und überzeugt durch Raum-Erlebnis. Sein Haus in Buam-dong in Seoul House with Chukdae und das Bauwerk The Seaside House in Goseong-gun der Provinz Gangwon-do können quasi als Repräsentanten einer von ihm angestrebten Architektur gelten.
„Da es in der koreanischen Architektur auf Standortbedingungen, Lichtbeziehungen oder Nutzungsmöglichkeiten usw. ankommt, geht es mehr um die Atmosphäre des Raums als um die Fassade des Gebäudes.“ Die Maximierung der äußeren Formschönheit steht also weit weniger im Vordergrund als die Gefühle, die sich aus dem Raum zwischen den Gebäuden, dem Sonnenlicht, dem Wind, dem Vogelgezwitscher oder dem Geräusch von Wellen speisen.
„Kim Tai Soo, der Architekt vom MMCA (National Museum of Modern and Contemporary Art) Gwacheon, hatte vor langer Zeit gesagt, dass auf die Ära der Meister die der Moderne folgte, diese aber ebenfalls in den 1980er Jahren zu Ende gegangen und daraufhin eine Zeit des Individualismus angebrochen sei. Es folgte also ein Zeitalter, in dem ein jeder sein eigenes Fundament schafft. Auch ich habe Erinnerungen an meine Kindheit. Unseren Mitarbeitern von ONE O ONE architects gegenüber betone ich deshalb immer wieder, wie viel wichtiger Erinnerungen sowie persönliche Erfahrungen gegenüber einem bestimmten Geschmack sind. Schließlich ist es die eigene Geschichte, mit der man die Arbeit konzipiert und schafft.“
Das Wohnhaus von Choi Wook, The House with Chukdae, ist ein perfektes Beispiel für die von ihm angestrebte Architektur. Die Lage des Hauses hat sich der Topographie des Geländes angepasst, während ein Minimum an Wänden den ungetrübten Blick auf den Wechsel der Jahreszeiten ermöglicht. Auf dem Foto abgebildet ist der Essbereich von Choi und seiner Frau Jinnie Seo, eine Installationskünstlerin.
Mit freundlicher Genehmigung von ONE O ONE architects, Foto: Namgoong Sun
Das Haus am Meer, zweiter Wohnsitz von Choi Wook, wurde in bescheidener Größe erbaut, damit es im Einklang mit den anderen Häusern im Fischerdorf steht, in dem es sich befindet. Die Wände wurden mit Gips verputzt. Auf Funktionalität wurde weniger geachtet und viele große Fenster eingebaut, die die Meereslandschaft ins Haus holen.
Mit freundlicher Genehmigung von ONE O ONE architects; Foto: Kim In-chul
Die GENESIS Lounge von Hyundai Motors, die sich im 5. Stock des Hotels The Shilla Seoul befindet, war inspiriert von Madang (Hof) und Daecheong (Große Holzdiele) eines traditionellen koreanischen Hanok. An der vergleichsweise niedrigen Decke kamen reflektierende Materialien zum Einsatz, um ein Gefühl von Höhe zu vermitteln.
Mit freundlicher Genehmigung von ONE O ONE architects; Foto: Kim In-chul