Chefkoch Joseph Lidgerwood hat eine besondere Leidenschaft für koreanische Zutaten. In seinem mehrfach preisgekrönten Restaurant zaubert er unvergessliche kulinarische Erlebnisse und erfindet die koreanische Küche auf geniale Weise neu
Joseph Lidgerwoods Wertschätzung für die Frische und den Charakter der koreanischen Küche führte zur Eröffnung von EVETT, in dem er ein Degustationsmenü aus lokalen Zutaten anbietet. Einige dieser Zutaten stammen von seinen Streifzügen in der Natur.
Nach 14 Monaten des Herumreisens, ohne festes Einkommen oder geregelten Tagesablauf, gelangte der australische Koch Joseph Lidgerwood schließlich auf die Insel Jeju-do im Süden Koreas. Ziel war es, von einer der Haenyeo, den berühmten Inseltaucherinnen, die ohne Sauerstoffflaschen Meeresfrüchte ernten, mehr über ihre Arbeit zu erfahren.
„Aber auf jede Frage, die ich stellen wollte, kam als Antwort nur ein Seeigel, den sie mir in den Mund schob. Also saß ich einfach dort und wir aßen gemeinsam. Es war so ein schöner Anblick, wie die Frauen aus dem Wasser stiegen und, die Taucheranzüge immer noch an, auf ihre Roller sprangen und davonbrausten.“
Aufgewachsen auf der Insel Tasmanien, waren Lidgerwoods frühe Jahre von Familienausflügen und der Suche nach Meeresfrüchten geprägt, mit denen man die heimische Gefriertruhe füllte. Nichtsdestotrotz bestanden die Mahlzeiten in der Regel aus Fleisch, gekochtem Gemüse und Kartoffelpüree. „Ein Abendessen im Pub für einen Zehner (rd. 6 Euro) war damals für mich der Inbegriff von kulinarischem Luxus.“
Vom Burgerbrater zum Spitzenkoch
Lidgerwood erfuhr als Teenager von Initiativen der australischen Regierung zur Berufsförderung. Er wollte es sich zwar zunutze machen, aber anstatt Elektriker oder Mechaniker werden zu wollen wie seine Freunde, wählte er den Beruf eines Kochs. Das hörte sich für ihn cool an, schließlich hatte er in der Küche seiner Mutter schon geholfen.
Sein erster Job war Burgerbrater in einem sog. Gourmet-Café in der Flussstadt Franklin. Dann folgte die Arbeit in einem Steakhouse, was er als Aufstieg beschrieb, auch wenn kaum mehr als „Steak mit Blauschimmelkäse in der Mitte“ serviert wurde. Einer der Köche dort erzählte ihm von seiner „höllischen, aber sehr lehrreichen“ Zeit in einem hochklassigen Restaurant in London. Grund genug für Lidgerwood, an die Themse zu ziehen.
In der britischen Hauptstadt angekommen, sammelte Lidgerwood zunächst Erfahrung in renommierten französischen Restaurants, darunter das mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete „The Square“ und das ikonische „The Ledbury“ – beide vom weltberühmten Koch Philip Howard mitgeführt.
„In den Küchen ging es wirklich drunter und drüber. Bei nur vier Stunden Schlaf pro Tag brauchte ich eine Weile, um Fuss zu fassen. Einige meiner Kollegen hielten nur einen Monat durch; manche hängten die Kochmütze sogar für immer an den Nagel.“
Im Rückblick hat der heute 36-jährige Lidgerwood dieser Zeit viel zu verdanken, u. a. auch seine Motivation, Hingabe und Leidenschaft. „Ohne diese Erfahrung wäre ich nie so weit gekommen. Es war eine unglaubliche Zeit, auch wenn es auf lange Zeit nicht machbar war. Die Rezepte von damals verwende ich nicht mehr, doch habe ich gelernt, wie man den Tag besser organisiert und wie ein kompetenter Küchenchef arbeitet: sauber, ordentlich, schnell und präzise.“
One Star House Party
2016 schloss sich Lidgerwood einem Freund an, der vorhatte, private Dining-Events der ausgefallensten Art anzubieten. Gemeinsam gründeten sie One Star House Party, ein kulinarisches Pop-up-Erlebnis, das die ganze Welt bereiste. Mit ihren relativ einfachen Gerichten, bestehend aus oft nur drei bis vier Elementen, strebten sie keine gastronomischen Höhenflüge an, das Besondere war vielmehr die einmalige Erfahrung, die sie zu bieten hatten. Schnell bekamen ihre Events Kultstatus und ein jedes von ihnen war ausverkauft. Unter den exzentrischen Veranstaltungsorten befand sich u. a. das Basislager des Mount Everest, aber auch ein Nachtzug in Vietnam, in dem den Gästen ein Vier-Gänge-Menü auf ihren Etagenbetten geboten wurde.
Erste Begegnung mit Korea
Lidgerwoods erste Begegnung mit Korea ereignete sich kurz vor einem Dining-Event in Seoul auf der Insel Jeju-do. Er und seine Freunde wollten mit den Haenyeo nach Muscheln tauchen, wurden jedoch abgewiesen, weil die Frauen dachten, die unerfahrenen Besucher würden sie bei der Arbeit stören. So blieb Lidgerwood am Strand zurück und bemühte sich, Informationen für die Werbung des bevorstehenden Events zu bekommen. Der Versuch, die Taucherinnen nach ihrem Lebensstil oder koreanischem Essen zu befragen, endete jedoch mit einem Seeigel im Mund.
Kurz darauf verließ Lidgerwood die One Star House Party und zog in die USA. Doch die Verbindung zu Korea riss nicht ab: Ein Kunde seines Pop-up-Events bot ihm einen Platz in seinem neuen Gebäude in Seoul an. Mit Unterstützung seiner Frau Ginny eröffnete Lidgerwood 2019 das Restaurant EVETT. Zu jener Zeit, als die gehobene Gastronomie in Korea vornehmlich auf luxuriöse Zutaten wie Foie Gras und Kaviar setzte, bot EVETT eine erfrischende Abwechslung: ein Menü mit Fokus auf koreanischen Zutaten, interpretiert von einem australischen Chefkoch.
Der mutige Einsatz von Zutaten, die selbst vielen Koreanern zuvor unbekannt waren, und der Fokus auf Fermentation brachten EVETT innerhalb eines Jahres den ersten Michelin-Stern ein.
„Unser Essen ist definitiv keine Fusionsküche, sondern vielmehr ‚innovative koreanische Küche‘. Was wir ausdrücken wollen, sind die Wertschätzung für lokale Zutaten und eine neue Art, sie zu präsentieren“, erklärt er.
Die koreanische Fermentationskunst spielt in Lidgerwoods Gerichten eine besondere Rolle. Ebenso wichtig sind ihm wildwachsende Zutaten, für die er sich gerne selbst in den Bergen auf „Beutetour“ begibt.
Seine Begeisterung für die einzigartigen Zutaten der koreanischen Küche erklärt er so: „Die Verwendung der Zutaten, die Zubereitung der Speisen und die Verschmelzung der Aromen – man weiß einfach, dass man in Korea ist. Alles ist so dynamisch. Die koreanische Küche ist woanders auch nicht realisierbar. Die Ganjang Gejang, die in Sojasauce marinierten rohen Krabben, wären z. B. in Australien aufgrund der dortigen Lebensmittelgesetze gar nicht möglich. Auch der fermentierte Reiswein Makgeolli leidet bei langen Transportwegen. Sie sind fest mit der Halbinsel verbunden. Versucht man, sie zu kommerzialisieren oder übermäßig zu sterilisieren, geht ihr Zauber verloren. Technisch gesehen mögen es noch koreanische Gerichte sein, aber es fehlt die Ursprünglichkeit.“
Zu seinen jüngsten Kreationen zählt ein Quitten-Dongchimi, eine Art Kimchi in Salzlake, das er zusätzlich mit Seescheiden, Mandarinen von der Insel Jeju, Ziegenmilch und Koreanischem Engelwurz verfeinert – eine Kombination, die er besonders schätzt.
Familiäre Atmosphäre
Im EVETT, das mit neun Tischen etwa 25 Gäste gleichzeitig bewirten kann, wird ausschließlich ein Degustationsmenü serviert. „Einige Signature Dishes runden das Menü ab“, ergänzt Lidgerwood. Das Besondere ist, dass die 15 Köche nicht nur in der Küche wirken, sondern den Gästen die Gerichte auch erklären und den letzten Teil der Zubereitung direkt am Tisch vornehmen. Für Lidgerwood spiegelt diese Küche voller Finesse den anspruchsvollen Ansatz seines Teams wider, ständig die Grenzen des Möglichen zu erweitern und das Menü weiterzuentwickeln.
Anfängliche Bedenken, als Ausländer koreanische Gerichte zu servieren, wichen einer Anerkennung sowohl von Kritikern als auch von Gästen. „Die meisten unserer Gäste erkennen unsere Hingabe an die koreanischen Zutaten, und das motiviert uns sehr. Unsere Gerichte mögen nicht immer extravagant oder spektakulär sein, aber die Gäste wissen sie zu schätzen.“
Mit zahlreichen Auszeichnungen, darunter ein Michelin-Stern im Jahr 2020, hat sich EVETT an die Spitze der ständig wachsenden gehobenen Gastronomieszene Koreas gekocht. Nach der Renovierung des Restaurants und dem kürzlichen Umzug in das wohlhabendere Viertel Apgujeong in Gangnam bedauert Lidgerwood zwar, dieses Jahr keinen zweiten Stern erhalten zu haben, glaubt jedoch, dass der Erfolg des Restaurants am Ende nicht von Michelin abhängt.
„Ich bin äußerst zufrieden mit den bisherigen Erfolgen und der von uns eingeschlagenen Richtung. Wir haben fantastische Gäste, und ich bin stolz auf unsere Gerichte. Auch komme ich viel herum und stoße immer wieder auf neue, mir unbekannte Zutaten.“
Trotz all der lobenden Worte bezüglich seiner gehobenen Kochkunst sind es manchmal die einfacheren Worte, die am meisten bedeuten. So wie die eines Kritikers, der bemerkte, dass man sich im EVETT wie in einer Familie fühle.
Meju Doughnut ist eines der Signature Dishes von EVETT: Sorghum-Reiskuchenbällchen von fermentiertem Meju-Sojabohnenpulver umhüllt und gefüllt mit karamellisierter Creme sowie schwarzem Knoblauchpüree, garniert mit Sardellen.© EVETT
Ein besonderes Erlebnis
Ein hochpreisiges Degustationsmenü mit mehr als zehn Gängen, oft begleitet von traditionellen, doch neu interpretierten koreanischen Getränken – das stellt hohe Anforderungen an Kreativität und Überzeugungskraft. Die ständige Herausforderung besteht darin, wie man ein unvergessliches Mahl kreiert.
Jedem Gast an jedem Tisch sollte ein einzigartiges Erlebnis bereitet werden. Auf der anderen Seite möchte nicht jeder Besucher alle Details über die Gerichte und Zutaten erfahren. Lidgerwood weiß, dass es wichtig ist, die Atmosphäre an jedem Tisch zu erkennen, um den Gästen ein maßgeschneidertes, wertvolles Erlebnis zu schaffen.
Vielleicht ist das beste Beispiel dafür der Besuch des Besitzers eines nahegelegenen Hähnchenladens, den er bei einigen Flaschen Bier in die Philosophie seines Restaurants einweihte. Der lokale Hähnchenverkäufer, zunächst skeptisch gegenüber der Idee eines australischen Spitzenkochs, der fast ausschließlich mit koreanischen Zutaten kochen möchte, bedankte sich nach dem Mittagessen mit seiner Frau im EVETT mit einem verschmitzten Lächeln und dem Kommentar, das Essen sei „nicht schlecht“. Für Lidgerwood war diese Einschätzung das größte Lob. „Diese Worte sind mir am meisten in Erinnerung geblieben und motivieren uns zu zeigen, wie großartig koreanische Zutaten sind.“