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2024 SPRING

Der Social-Media-Anthropologe

Der hünenhafte Niederländer Bart van Genugten mit einem Faible für Geschichten und Storytelling kam das erste Mal 2014 nach Korea. Dann heiratete er und gründete den populären YouTube-Kanal iGoBart, der u. a. niederländische Veteranen des Koreakriegs interviewt sowie Orte in Korea vorstellt, die sonst weniger im Rampenlicht stehen.
Bart van Genugten hält eine kleine Kamera in der Hand

Meist radelt Bart van Genugten mit einer leichten Handkamera in der Hand durch die Nachbarschaft, wenn er für seinen YouTube-Kanal iGoBart filmt.

Bart van Genugtens erster Vorstoß nach Korea barg mehr Hindernisse als gedacht. Die Tatsache, dass er während seines Spanisch-Studiums 2014 in Málaga eine koreanische Freundin hatte, ließ ihn sich am Korean Language Center der Sungkyunkwan University in Seoul einschreiben. Wohnen tat er jedoch im Bezirk Bupyeong der Stadt Incheon, wo die öffentliche Beschilderung nicht unbedingt auf Besucher aus dem Ausland zugeschnitten war.

Aufgewachsen in Grave, einer 8.500-Seelen-Stadt, hatte er nie besondere Navigationsfähigkeiten gebraucht. „Es fiel mir deshalb schwer, mich an die riesigen U-Bahn-Stationen mit ihren tausend Ausgängen zu gewöhnen. Ohne Koreanisch-Kenntnisse schwirrte mir regelrecht der Kopf“, erinnert er sich. „So jung in einer so großen Stadt zu sein, verlangte einem ganz schön was ab.“ Nichtsdestotrotz sollte der Korea-Aufenthalt einen ungemein positiven Eindruck bei ihm hinterlassen.

Zurück nach Asien

Nach drei Monaten kehrte van Genugten in die Niederlande zurück und begann zu arbeiten. Doch ein Jahr später realisierte er, dass er noch nicht bereit war, sich ganz dem Alltag eines Büroangestellten hinzugeben. So kündigte er und ging wieder nach Asien. Zuerst verbrachte er ein paar Wochen in Korea und machte sich dann auf eine sechsmonatige Rucksacktour durch China, Taiwan, Myanmar, Vietnam, Thailand und die Philippinen. Aber ganz befriedigt war er noch nicht.

„Den Asien-Trip fand ich wenig aufregend. Ich war die ganze Zeit allein. Ich fragte mich: ‚Soll das mein Leben sein?‘. Ich wollte noch irgendwo hin, und Korea war mir am vertrautesten. Das Land hatte für mich diese seltsame Mischung aus völliger Fremdheit und gleichzeitiger Heimeligkeit. Es herrscht eine gute Balance zwischen Ost und West, und man kann sich wohlfühlen, auch ohne über alles Bescheid zu wissen.“

Heirat und Kultur

Van Genugten erzählt sehr nonchalant von seiner Rückkehr nach Korea Anfang 2017. Tatsächlich sollte sie einen Wendepunkt in seinem Leben bedeuten. Denn zunächst lernte er seine spätere Frau Kim Hwi-a kennen.„Das war auf einer Dating-App. Sie wohnte in Sangsu-dong und ich in Hapjeong-dong; wir waren also quasi Nachbarn und verstanden uns auf Anhieb. Das war ausgerechnet dann, als ich in die Niederlande zurückmusste. Da kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht etwas länger bleiben sollte. Wir liebten alles aneinander, und es gab keinen Grund, nicht zu heiraten. Also taten wir es.“Nach ihrer Hochzeit 2019 ließen sich van Genugten und seine Frau in Mapo-gu, Seoul nieder, einem Bezirk am Fluss Han-gang mit vielen Spazier- und Radwegen, mehreren Universitäten, schönen Geschäften und Party-Gegenden für junge Leute.Von Anfang an war van Genugten von dem rasanten Wandel Koreas fasziniert. „Es war so interessant, wie ein Land von kolonialer Unterdrückung und Koreakrieg zu wirtschaftlichem Erfolg und Demokratisierung gelangen konnte. Dann kam die asiatische Finanzkrise, aber nicht einmal zehn Jahre später wurde aus Korea einer der bekanntesten Orte der Welt. Da ich Humangeographie, also die Beziehung von Mensch und Raum studiert habe, konnte ich spüren, dass sich aus Korea etwas Großes ergeben wird.“

Bart van Genugten

Seine offene, gelassene Art und sein ehrliches Interesse an der Geschichte Koreas kommen gut an bei den Einheimischen, die mit so mancher Anekdote über ihre Nachbarschaft aufwarten können.

Das YouTube-Abenteuer

2018 startete van Genugten mit Hilfe seiner Frau den YouTube-Kanal Sexy Green. Im Fokus sollten Umweltthemen stehen, da er ursprünglich vorgehabt hatte, ein Unternehmen für umweltfreundliche Produkte zu gründen, für die er dann auf YouTube hätte werben können. Doch seine Leidenschaft fürs Reisen und andere Kulturen gaben den Ausschlag zu einer Namens- und Ausrichtungsänderung des Kanals: iGoBart war geboren. „iGo“ ist ein Wortspiel, das für van Genugtens Reisebegeisterung steht, aber auch wie der koreanische Ausruf „aigo“ klingt, mit dem man Überraschung, Mitgefühl oder auch Trauer ausdrücken kann.Seine mehr als 300 Videos generierten rund 32 Millionen Aufrufe. Besonders beliebt war eine Serie von Interviews und Geschichten über niederländische Veteranen des Koreakriegs, mit deren Erstellung er nach seinem Nordkorea-Besuch 2018 begonnen hatte.Für ihn war es die Gelegenheit, eine der tiefsten Verbindungen zwischen den Niederlanden und Korea zu erkunden. „Viele tausend Männer kamen nach Korea, sie kämpften hier, und einige von ihnen starben. Ich wollte diese Tatsache beleuchten, bevor es zu spät sein würde. Schließlich sind die meisten der noch lebenden Veteranen schon in ihren Achtzigern.“Einige der auf seinem Kanal Vorgestellten sind inzwischen verstorben, und da nur noch weniger als 100 Veteranen am Leben sind, ist Dringlichkeit geboten. Wichtig ist der Serie vor allem, nicht nur Kriegsgeschichten zu erzählen, sondern gegenüber den Veteranen deutlich zu machen, dass es Menschen gibt, die für ihren Einsatz und für ihre Opfer dankbar sind. Van Genugten ist ein Geschichtenerzähler durch und durch. Manche nennen ihn zwar Influencer, aber er meint, er fühle sich eher wie „ein Dokumentarfilmer, ein Videomacher und eben auch wie ein YouTuber“. Er glaubt, jeder hat eine Geschichte zu erzählen.„Und ich liebe es, Geschichten zu hören. Sie sind mir eine große Inspiration. Mein Vater ist das jüngste von zehn Kindern und ist bereits 70 Jahre alt. Seine Eltern starben vor 15 Jahren mit 97. Die Großeltern von ihm kannten Menschen, die in den Napoleonischen Kriegen gekämpft hatten. Das ist eine Historie, die jetzt nicht mehr greifbar ist.“

Das Bild von ihm, wie er die Wände des Viertels, das er besuchte, bemalte.

Mit seinem aktuellen Projekt will van Genugten alle 467 Dong in Seoul erkunden. Auf dieser Karte werden nach jedem seiner Besuche die entsprechenden Orte ausgemalt.

2.000 Kilometer auf Entdeckungsreise

2021 erlitt er einen Burnout. Der Druck, wöchentlich neue Inhalte hochzuladen, überforderte ihn, und mit den Ergebnissen war er auch nicht zufrieden. Seine Videos spiegelten eher das wider, was die Zuschauer sehen wollten, und nicht das, was er kreieren wollte.Seine Frau schlug ihm eine Reise mit dem Rad vor, frei nach dem Motto: „Schau, was dir das Leben zu bieten hat!“

Also schwang er sich aufs Rad und fuhr zwischen Juli und Oktober 2021 eine rund 2.000 km Strecke entlang der Küste um die koreanische Halbinsel. Er genoss den Anblick von Landschaften an entlegenen Winkeln und Küsten, besuchte Orte, an denen die Zeit stehen geblieben zu sein schien. In den ländlichen Gebieten der Provinzen Gyeongsangnam-do und Jeollanam-do war das Flair der 1960er und 1970er Jahre zu spüren.Die Reise ließ ihn viel über sein Leben und seine zweite Heimat reflektieren. „Definitiv weiß ich jetzt, dass meine Frau die Allerbeste ist.“ Auch erlangte er ein tieferes Bewusstsein über seine Liebe zur koreanischen Kultur. In seiner kompromisslosen Art, die Dinge zu sehen, liegt die Schönheit der koreanischen Kultur nicht in dem „perfekten Bild“, das nach außen hin verkauft wird.„Es gab Rassismus und Diskriminierung“, erklärt er frei heraus. „Da waren super freundliche Leute, die mich zu sich nach Hause einluden. Wieder andere fragten: ‚Was hast du denn hier verloren?‘ Von allem ein bisschen also. Nette Menschen und auch weniger nette, aber gerade diese Unvollkommenheit war es, die mich anzog.“

Kulturunterschiede

Der selbst ernannte „Landjunge“ van Genugten war es aufgrund seiner Herkunft gewohnt, auch Fremde zu grüßen, was für die meisten Koreaner eher ungewöhnlich ist. „Ich mag den Kontakt zu anderen Menschen. Mit jüngeren Leuten geht das manchmal weniger gut, aber ältere Menschen nehmen sich oft Zeit für ein Gespräch,“ sagt er.

Die Niederländer sind seiner Ansicht nach „superdirekt“. Deshalb kann die erste Begegnung sogar schon ausreichen, um Freundschaften und Kontakte zu knüpfen. Darüber hinaus wird offen und ohne Tabus über Religion, politische Zugehörigkeiten und sogar Sexualleben diskutiert. Zumindest was diesen Punkt angeht, ist der Unterschied zwischen der niederländischen und koreanischen Kultur besonders deutlich.„Bei einem Abendessen mit jemandem, möchte ich gerne über Politik reden, Fragen über den Präsidenten stellen oder wissen, wen er wählen wird. In den Niederlanden redet man über so etwas, es kommt vielleicht sogar zu einer harten Diskussion, aber am Ende des Tages bleibt man gute Freunde. Kontroverse Meinungen hindern einen nicht daran, Beziehungen aufzubauen. In Korea könnte das schwierig sein.“Andererseits hat die koreanische Etikette soweit auf van Genugten abgefärbt, dass er zurück in den Niederlanden Gespräche etwas behutsamer angeht. „Ich bin schon viel mehr Koreaner geworden. Ich nehme viel mehr Rücksicht auf die Gefühle anderer. Das Leben in Korea hat mich meiner selbst mehr bewusst werden lassen. Es scheint mir, ich habe das Beste aus beiden Welten übernommen.“Dennoch meint van Genugten, er sei nur „ein Niederländer, der hier lebt und über das Land lernt“. Wirklich ein Koreaner zu werden, sei für ihn eine unmögliche Mission. „Ich bin ein glücklicher Fremdling in diesem Land. Es reicht mir, wenn die Menschen mich so akzeptieren, wie ich bin.“

Willkommen in meinem Viertel

Letztes Jahr besuchte van Genugten einen traditionellen Markt in Gajwa-dong im Seouler Bezirk Seodaemun-gu. Der Markt war nicht besonders attraktiv oder hygienisch, aber er faszinierte ihn. „Ich hatte gar nicht gewusst, dass so ein Ort existiert! Es gibt so viele weniger bekannte Orte, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätten und einem so viele Gelegenheiten bieten, mehr über Korea zu lernen.“Daraufhin entstand sein ehrgeizigstes YouTube-Projekt: eine Serie über die 467 Dong (kleinste Verwaltungseinheit) von Seoul. Es wurden bereits fast 40 Dong vorgestellt. Er erklärt: „Jedes Viertel hat seine eigene Historie und Storys. Es ist faszinierend, durch all diese kleinen Häppchen, die ihr Viertel zu etwas Besonderen machen, mehr über Korea zu lernen.“Auf die Frage, welcher Ort unter den bisher dokumentierten ihm am besten gefiele, fängt van Genugten an, für Mapo-gu zu schwärmen, den Stadtteil, in dem er lebt. „Es ist meine Heimat in Korea. Es ist, als wäre ich hier aufgewachsen. Denn ich kenne jede Straße und Gasse wie meine Westentasche. Ich fühle mich wie zu Hause und möchte dieses Gefühl nicht verlieren.“

Er hofft, letztendlich auf Basis seiner Serie ein Buch zu veröffentlichen, in dem er seine Erfahrungen zusammen mit Anekdoten von Experten und Einwohnern vorstellt.Viele seiner koreanischen Zuschauer haben kommentiert, dass van Genugten als Ausländer offenbar mehr über Korea wisse als sie selbst. Denen antwortet er: „Eher nicht. Ich lerne einfach kontinuierlich. Ich bin kein Professor, der anderen etwas beibringt. Ich bin mehr so etwas wie ein Social-Media-Anthropologe.“

Van Genugten möchte seine Leidenschaft und seinen Weg des Lernens mit anderen teilen. „Früher ging es mir nur darum, mehr Abonnenten zu gewinnen, was aber etwas sehr Oberflächliches ist. Denn was will man dann erreichen? Das ist so inhaltsleer. Wir fragen einen Dokumentarfilmer auch nicht, warum er Dokumentationen dreht. Wir schauen sie einfach und erfreuen uns an ihr. Und so wünsche ich es mir auch für die Zuschauer meines Kanals.“

Daniel Bright Schriftsteller
Fotos Han Jung-hyun

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