Virtuelle Idole sind präsenter denn je. Ganz wie ihre menschlichen Pendants veröffentlichen sie Alben, teilen ihren Alltag in sozialen Netzwerken und kommunizieren mit ihren Fans. Diesen ist die Echtheit der Idole weit weniger wichtig als ihre Musik und Performance. So sind die digitalen Künstler dabei, sich fest in der realen Welt zu etablieren und einen eigenen Kosmos innerhalb der Mainstream-Kultur zu bilden.
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Im Februar 2024 war im Kaufhaus The Hyundai Seoul auf Yeoui-do an virtuellen Popgruppen kein Vorbeikommen mehr, die sogar mit der größten Medienkunstinstallation seit der Eröffnung des Kaufhauses mithalten konnten. Drei virtuelle Idolgruppen sorgten mit Pop-up-Stores für Stimmung: die sechsköpfige Girlgroup ISEGYE IDOL, die fünfköpfige Boygroup PLAVE und die sechsköpfige Girlgroup StelLive. Ihre 30-minütigen Auftritte, die über einen 33 m breiten und 5 m hohen LED-Bildschirm übertragen wurden, waren für alle – seien es Fans oder einfache Besucher des Kaufhauses – kostenlos zugänglich.
Am 9. März setzte sich die virtuelle Idolgruppe PLAVE gegen die beliebte Girlgroup LE SSERAFIM sowie die Sängerin BIBI durch und belegte den ersten Platz in der MBC-Musiksendung Show! Music Core. Es war das erste Mal überhaupt, dass KI-Idole die Spitzenposition bei einer Musiksendung in einem terrestrischen Programm in Korea einnahmen.
Am 9. März 2024 belegte PLAVE als erste virtuelle Idolgruppe den ersten Platz in einer koreanischen TV-Musiksendung. Zur Feier des Tages teilte PLAVE ein Bild für die Fans auf Instagram.
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Der große Hype
Aufgrund der Virtualität der Künstler könnten einige ihre Beliebtheit in der Realität als „Fake“ empfinden. Auch dürfte es solche geben, die sie lediglich als flüchtiges Phänomen einer Nischenkultur abtun.
Die Leidenschaft der Fans für ihre Idole ist jedoch alles andere als virtuell. Dafür seien hier einige Beispiele angeführt:
Im September 2023 fand im Songdo Moonlight Festival Park in Incheon das erste mit dem Metaversum verknüpften Musikfestival Koreas statt: das ISEGYE Festival. Insgesamt 16 Künstler, darunter die virtuelle Girlgroup ISEGYE IDOL, virtuelle YouTuber und virtuelle Künstler sowie reale Künstler, vereinten mittels ihrer Musik virtuelle Welt und Realität. Es war eine wahre Fusion zwischen Realität und Metaversum. Das Festival zog rund 20.000 Besucher an, und die gleichzeitig übertragenen Kinovorführungen wurden zu 95,7 % gefüllt.
Am 28. Dezember 2023 startete auf der koreanischen Crowdfunding-Plattform Tumblbug eine Kampagne für den Buchdruck des Webtoons Magical Girl ISEGYE IDOL. Innerhalb der ersten 24 Stunden generierte sie eine unglaubliche Summe von 2,5 Mrd. Won (rd. 1,7 Mio. Euro) und einen Monat später waren 41,9 Mrd. Won (rd. 2,86 Mio. Euro) erreicht. Man hatte nicht nur das ursprüngliche Ziel von 20 Mio. Won (rd. 13.600 Euro) weit überschritten, sondern auch einen Rekord in der Geschichte des Tumblbug-Crowdfundings in Korea aufgestellt.
Ebenfalls bemerkenswert ist der Erfolg der virtuellen Boygroup PLAVE, deren zweites, im Februar 2024 veröffentlichtes Mini-Album ASTERUM: 134-1 sich schon in der ersten Woche 569.289 Mal verkaufte und damit den bisherigen Rekord unter den virtuellen Boygroups aufstellte. Auch in den allgemeinen Charts der Boygroups landeten sie auf Rang 17, eine Platzierung, über die sich so manche der „echten“ Kollegen sicherlich gefreut hätten. Dieser Erfolg war auch deshalb bemerkenswert, weil die Erstwochenverkäufe von K-Pop-Idol-Gruppen zu diesem Zeitpunkt durchweg rückläufig waren, da die Menschen mit Auslauf der Pandemie 2023 wieder weniger Zeit im Internet verbrachten. Dabei war es nicht das erste Mal, dass PLAVE in der koreanischen Unterhaltungsindustrie Aufmerksamkeit auf sich zog, bereits ihr Debütalbum ASTERUM: The Shape of Things to Come (2023) hatte sich in der ersten Woche über 200.000 Mal verkauft und die Branche aufhorchen lassen. Vieles deutet also darauf hin, dass Südkoreas virtuelle Idole auf dem besten Weg sind, ihren eigenen Kosmos zu erschaffen.
ISEGYE IDOL auf dem ISEGYE Festival im September 2023, Koreas erstem Musikfestival, das das Metaversum mit der realen Welt vereint.
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Die Anfänge
Ein wesentlicher Faktor für die schnelle Etablierung virtueller Idole in der Kulturindustrie war Corona gewesen. Die globale Pandemie der letzten Jahre hatte die Kunst- und Kulturwelt hart getroffen, andererseits sorgte sie in technologiegetriebenen Bereichen wie KI und dem Metaversum für einen beispiellosen Aufschwung, der alle bisherigen Entwicklungen des 21. Jhs. in den Schatten stellte.
Inmitten einer so nie dagewesenen Einschränkung menschlichen Lebens und Kontaktmöglichkeiten suchte die Technologie, in jede nur erdenkliche Lücke in der Geschäftswelt vorzustoßen. Die ganze Welt drehte sich damals zugunsten des Besitzes geistigen Eigentums (IP). Fast jeder versuchte es mit Technologie zu kombinieren, doch die meisten scheiterten und verschwanden für immer in der Versenkung. Zu den wenigen, die überlebten, zählen die virtuellen Idole.
Ähnlich und doch verschieden
Das Interesse von Industrie und Publikum an virtuellen Idolen bzw. an virtuellen menschlichen Figuren ist eigentlich nichts Neues. Vielen Koreanern dürfte der Cyber-Sänger Adam, der 1998 debütierte, noch in Erinnerung sein. Seine Musik traf den Nerv der Zeit des ausgehenden Jahrhunderts und sorgte für große Begeisterung. 2020 wurde die aus acht Mitgliedern bestehende Girlgroup æspa gegründet. Doch nur vier von ihnen sind real, die anderen sind ihre jeweiligen virtuellen Avatare. Und 2021 verblüffte schließlich die virtuelle Influencerin Rozy mit ihrem Look, der kaum noch von einem echten Menschen zu unterscheiden war.
Die heutigen virtuellen Idole weisen jedoch markante Unterschiede zu ihren Vorgängern auf. Grob können sie in zwei Kategorien eingeteilt werden: animierte Figuren und realistische 3D-Modelle. Während es bei früheren Beispielen um lebensnahe Modelle ging, bestehen die meisten der derzeit beliebten virtuellen Idolgruppen aus stilisierten Charakteren. Dazu gehören auch die Teilnehmer des Events im The Hyundai Seoul. Nachteil der 3D-Technologie ist sein Hang zur möglichst perfekten Darstellung menschlicher Erscheinungen, was mit erheblichem Zeit- und Kostenaufwand für grafische Umsetzung verbunden ist. Dieser Umstand beißt sich wiederum mit den Regeln des Idolgeschäfts, in dem es auf eine schnelle und enge Bindung zu den Fans ankommt. Unterschätzt werden darf auch nicht das sog. „Uncanny Valley“-Phänomen, also das Unbehagen, das manche empfinden, wenn sie es mit CGI-Figuren zu tun haben, die allzu menschlich aussehen, es aber nicht sind.
Doch nicht nur die Unterscheidung in animierte und realistische Modelle ist spannend. Auch der Blick auf ihre Eigenschaften lohnt sich. Nehmen wir die beiden derzeit erfolgreichsten Gruppen ISEGYE IDOL und PLAVE. Obwohl oft in dieselbe Kategorie gepackt, gibt es Unterschiede. So betont ISEGYE IDOL eher den virtuellen Aspekt, während PLAVE den Schwerpunkt auf Idolauftritte legt. ISEGYE IDOL folgt als „Vtuber“ (Virtual YouTuber) von Gründung über Verwaltung bis hin zu Auftritten der Standardformel in diesem Segment. Die Gruppe entstand durch ein Survival-Format und bildet somit eine neue Verbindung zwischen virtuellen und realen Idolen, die sich über die ganze Musikindustrie ausbreitet. Hier bildet das ISEGYE Festival eine Brücke zwischen virtueller und realer Welt.
Im Gegensatz dazu ist PLAVE, abgesehen von ihrem Charakter-Aussehen, nicht von traditionellen Boygroups zu unterscheiden. Auch sie bringen Alben heraus, treten in Musikshows bzw. im Radio auf oder veranstalten Fan-Events wie z. B. Live-Streams mit ihren Followern. Diese Merkmale sind darauf zurückzuführen, dass PLAVEs Agentur als Spezialist für virtuelle Charaktere begann. Ihre Kernkompetenz liegt darin, virtuelle Charaktere mit einem erstaunlich hohen Grad an zwischenmenschlichem Charme auszustatten. Auch am Songwriting bzw. Komponieren der Musik sind sie aktiv beteiligt, was sie zu Vorreitern einer neuen Art von talentierten virtuellen Idolen macht.
Die Zukunft der virtuellen Idole
In einer Welt voller Idole, Charaktere, YouTuber und Musik fällt die Einordnung virtueller Idole nicht leicht. Selbst eingefleischte Fans können nicht genau erklären, wie die von ihnen so heiß geliebte Welt beschaffen ist und wie sie funktioniert. Doch eines ist sicher: Die Zuneigung zu ihren Idolen ist echt. Woher sie kommen oder wie sie aussehen, ist nicht so wichtig. Sie sind nicht einmal neugierig zu erfahren, welche echte Menschen eigentlich hinter ihnen stehen. Sie mögen ihre virtuellen Idole einfach so, wie sie sind, schätzen ihre Musik und Tanzperformance. Diese Leidenschaft unterscheidet sich nicht von der eines traditionellen Fans. Die Zukunft der virtuellen Idole zu verstehen bedeutet, die Herzen ihrer Fans zu verstehen, ohne Vorurteile, mit einem offenen Blick.