Jin-do, die vor der Südwestspitze der koreanischen Halbinsel gelegene drittgrößte Insel des Landes, ist von Hunderten kleineren und größeren Inseln umgeben. Da sie auf der Seeroute zwischen China und Japan liegt, war sie schon früh ein Ort regen Austauschs, aber auch ein Schauplatz historischer Konflikte und ein Eiland des Exils. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich eine einzigartige Kultur.
Die Insel Jin-do vom Berg Cheomchal-san aus gesehen. Niedrige Berge schützen die goldenen Felder vor den Seewinden. Jenseits des Meeres ist der Kreis Haenam-gun auf der koreanischen Halbinsel zu sehen.
Am 9. September 1816 bestieg Basil Hall (1788-1844), Kapitän des britischen Kriegsschiffes Lyra, den höchsten Punkt der Insel Sangjo-do vor der Küste von Jin-do. Er schaute auf ein Archipel aus mehr als 100 Inseln hinunter und rief 'Welch herrlicher Anblick!“.
Heute erinnert Basil Hall Park in der Nähe des Dorisan-Observatoriums an den Besuch des britischen Kapitäns. Wer in Sebang Nakjo an der Südwestküste ankommt und das Observatorium noch vor Einbruch der Abenddämmerung erreicht, wird Halls Beschreibung zu schätzen wissen. Der spektakuläre Anblick, der sich von hier bietet, ist berühmt. Besucher, denen das Glück hold ist, blicken auf eine Unzahl von Inselchen, die links von der untergehenden, die Wolken rosa färbenden Sonne das Meer wie schwarze Vögel sprenkeln. Diese kleinen Inseln bilden den Jodo-Archipel, der einst Basil Hall und seiner Mannschaft den Atem verschlug.
Der Schiffskommandant gehörte einer britischen Gesandtschaft zur Verstärkung des Handels mit China an. Während seiner China-Mission erhielt er den Auftrag, die Westküste von Joseon, dem heutigen Korea, zu erkunden. Die Einzelheiten seiner Reise beschrieb er in dem 1818 veröffentlichten Buch Entdeckungsreise an die Westküste von Corea und der großen Lutschu-Insel, durch das die Welt darüber informiert wurde, dass die Insel Jin-do per Schiff erreichbar ist. Dies geschah ein halbes Jahrhundert vor der offiziellen Öffnung der koreanischen Häfen für Japan und danach für die westlichen Mächte. Es heißt, dass Großbritannien später den Joseon-Hof darum ersucht habe, Jin-do und den Jodo-Archipel zu verpachten. Die Einheimischen von Jin-do glauben, dass ihre Insel sich als Standort eines britischen Vertragshafens ähnlich wie Hongkong zu einem geschäftigen internationalen Umschlaghafen entwickelt hätte.
Zwar war es Jin-do nicht vergönnt, zu einem bedeutenden Handelsdrehkreuz zu werden, aber die Insel entwickelte sich zu einem Schmelztiegel, in dem sich Fremdes und Einheimisches verbanden und aufblühten. Jin-dos Lage machte die Insel aber auch berühmt und berüchtigt als Ort des Blutvergießens und der Verzweiflung. Jin-dos Status als einer der Hauptschauplätze historischer Ereignisse widerspricht gewissermaßen seiner Lage am untersten Ende der koreanischen Halbinsel.
Kultur der Bewahrung und des Zustroms
Jin-do erstreckt sich über rund 360 km², was rund 60% der Gesamtgröße von Seoul entspricht.Von Seoul aus braucht man fast vier Stunden: 2½ Stunden mit dem KTX (Koreas Hochgeschwindigkeitszug, der mit 300 km/h fährt) bis zum Hafen Mokpo in der Provinz Jeollanam-do und dann noch einmal eine Stunde mit dem Auto. Jin-do ist mit dem Festland durch eine rund 500m lange Schrägseilbrücke verbunden.
Im Meer vor Jin-do treffen die kalten, südwärts fließenden Meeresströmungen des Ostmeers auf die warmen, nordwärts fließenden Strömungen aus den äquatorialen Regionen. Der zusätzliche Einfluss der beschleunigten Gezeiten in den Gewässern um Jin-do erhöht die Fließgeschwindigkeit weiter. Die schnellen Strömungen beförderten einst ununterbrochen Prozessionen von Gesandten zwischen China und Japan sowie Kolonnen von Frachtschiffen, und zwar nicht nur von der Süd- und Westküste Koreas, sondern auch von Gaegyeong (heute Gaeseong in Nordkorea), der alten Hauptstadt des Goryeo-Reichs im Norden, und Hanyang (das heutige Seoul) im Süden. Zu den lokalen Spezialitäten von Jin-do gehören Blaukrabben, Gelbfische, Sardellen, Seeohren und kleine Kraken sowie verschiedene Arten von Meerespflanzen wie Seetang, getrockneter Meerlattich und Kombu-Seetang von guter Qualität. All diese Produkte sind Geschenke der kalten und warmen Meeresströmungen, die um die Insel herum zusammenfließen.
Beim Herumwandern vergisst man leicht, dass Jin-do eine Insel ist. Sie ist an drei Seiten von Bergen umgeben und man trifft häufig auf typische Agrarlandschaften. Im Gegensatz zu anderen Inseln sind die landwirtschaftlichen Nutzflächen weitläufig, und hier und da sind Wassereservoire zu sehen. All dies ist Ergebnis von vor langer Zeit durchgeführten Landgewinnungsprojekten, in deren Zuge Hügel abgetragen und das Wattenmeer aufgeschüttet wurde.
Daher wurde die Insel einst 'Okju“ genannt, was soviel bedeutet wie 'ein Ort, der fruchtbar ist, obwohl er eine Insel ist“. Die Landwirtschaft hat Jin-do zum größten Saatgutlieferanten des Landes gemacht, aber Hauptanbauprodukt ist Reis. Ein Teil der jährlichen Reisernte ernährte einst die Bewohner der Insel Jeju-do, die zwar flächenmäßig vier mal größer als Jin-do, aber ungeeignet für den Reisanbau ist. Daher heißt es seit alter Zeit auf Jin-do: 'Eine gute Jahresernte hält einen drei Jahre über Wasser“.
In solch einer bukolischen Umgebung waren Singen und Tanzen etwas Selbstverständliches für die Insulaner. Kommt man in ein Dorf, hört man auch heute noch die Frauen die lieblichen, langsamen Weisen des Volksliedes Yukjabaegi singen. Die fröhlichen Lieder, die im Sommer bei der Feldarbeit gesungen werden, weisen eine große Bandbreite unterschiedlicher Melodien und Rhythmen auf, wobei sich die Arbeitslieder auf den Reisfeldern von denen der Trockenanbau-Felder unterschieden. Unter dem Erntevollmond im achten Monat nach Lunarkalender schlüpfen die Frauen und Mädchen des Dorfes in neue Kleider, tanzen einander an den Händen haltend den alten Kreistanz Ganggangsullae und singen die endlosen Verse des Volkslieds Jindo Arirang. Die Männer führen Nongak auf, die flotte traditionelle Bauernmusik mit Tanz und Riten, die auch in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurde. Es ist nicht überraschend, dass die Insel mit ihren nur 30.000 Einwohnern auch ein eigenes Ensemble für die traditionelle Musik Gugak hat, dessen Truppen jeweils Instrumentalmusik, Vokalmusik bzw. Tanz aufführen. Die Insel verfügt zudem über einen beeindruckenden modernen Konzertsaal und eine Bildungsanstalt, die der klassischen Gugak-Musik gewidmet ist und zum Jindo National Gugak Center gehört.
Sebang Nakjo auf Jin-do liegt am südlichsten Zipfel der koreanischen Halbinsel. Die 154 Inselchen, die sich bei Sonnenuntergang in schwarze Silhouetten verwandeln, sorgen für ein abendliches Farbspektakel.
Der nachhaltige Beitrag der Verbannten
Neben reichlichen Ernten und Gesang birgt die Geschichte der Insel Jin-do aber auch reichlich Trauer und Leid. Die große Entfernung zur Hauptstadt machte die Insel zu einem idealen Ort der Verbannung für konfuzianische Gelehrte, die aus politischen oder ideologischen Gründen am Königshof in Ungnade gefallen waren. Für sie war die Insel ein sehr weit entfernter Ort, an dem sie verrotteten und in Vergessenheit gerieten. Aber die Ausgestoßenen des Hofes wurden zum Segen für Jin-do.
Während der drei bis zwanzig Jahre, die die vom Hof verbannten Gelehrten im Exil auf Jin-do verbrachten, mischten sie sich unter die Einheimischen, stellten ihnen die Kultur der verschiedenen Regionen vor und vermittelten Geist und Werte der Zeit an die talentierten Köpfe der Insel. Daher wurde die Kultur von Jin-do diversifizierter und reicher als die der meisten anderen Regionen des Landes.
Zum Beispiel ist Jin-do heutzutage als Zentrum der Literati-Malerei der Südlichen Schule anerkannt, sodass es 2018 auch die erste Jeonnam International Sumuk Biennale veranstaltete (Sumuk: koreanische Tuschemalerei). Dieses Ereignis ist zwei Ureinwohnern von Jin-do zu verdanken, nämlich Heo Ryeon (1809-1892) und Heo Baek-ryeon (1891-1977), die zu den bedeutendsten Vertretern der Südlichen Schule zählen. Beide wurden von Verbannten, die aus der Hauptstadt ein profundes Kunstwissen mitbrachten unterrichtet und unterstützt. Vor demselben Hintergrund entwickelte sich eine lokale Kultur der Herstellung alkoholischer Getränke. Dazu gehört z.B. Hongju (wörtlich 'roter Branntwein“), ein Reisschnaps, der während der Destillation mit getrockneten Jicho-Wurzeln (Steinsamenwurzel) angereichert wird, sodass er sich rot färbt, oder Tee, der mit den jungen Trieben von Teepflanzen, die überall in den Bergen und Feldern der Insel wachsen, hergestellt wird. Aber wie es sich oft in der Geschichte bestätigt findet, bedeuten solch vorteilhafteBedingungen nicht immer nur Gutes.
Sambyeolcho und die Schlacht von Myeongnyang
Während der Joseon-Zeit (1392-1910) war der kürzeste Weg nach Jin-do der Seeweg von der Rechten Flottenbasis in Haenam zur Nokjin-Fährstelle. Die starken Strömungen rund um die Insel ließen den gemeinen Mann jedoch die längere Strecke von einem Kilometer benutzen, die vom Okdong-Hafen zum Byeokpa-Hafen führt. Jenseits des Hügels am Byeokpa-Hafen befindet sich die historische Festungsstätte Yongjang Sanseong. Es war das Hauptquartier der Sambyeolcho, drei Elite-Kampfeinheiten, die sich der pro-mongolischen Goryeo-Regierung bis zum Schluss widersetzten und von einem 'neuen Goryeo-Reich“ träumten.
Jin-do war für die Sambyeolcho ein idealer Ort für die Verteidigung. Die Sambyeolcho, die am 19. August 1270 in Jin-do einmarschierten, bauten die Burgstadt Yongjang zu einer regelrechten militärischen Festungsanlage aus, in deren Mittelpunkt der Tempel Yongjang-sa lag, der größte buddhistische Tempel von Jin-do. Sie verwendeten 'Goryeo“ als offiziellen Reichsnamen, setzten ihren eigenen König auf den Thron und errichteten eine fast exakte Nachbildung des Manwoldae-Palastes, des offiziellen Goryeo-Königspalastes in der Hauptstadt Gaegyeong.
Die Bevölkerung von Jin-do unterstützte die Ziele der Sambyeolcho und leistete Hilfe. Auch sie wollten sich von den Mongolen befreien, die mehr koreanisches Territorium unter ihre Herrschaft gebracht hatten als alle anderen Invasoren davor. Jedoch hielt der Widerstand nicht lange an. Im Mai 1271, weniger als ein Jahr später, fiel die Yongjang-Bergfestung in die Hände der vereinten Goryeo-Mongolen-Streitkräfte.
Namdojin Seong, die Südliche Garnisonsfestung, wurde im 13. Jh. erbaut, als die Sambyeolcho-Elitetruppen von Goryeo die Küstenregion gegen die mongolischen Invasoren verteidigten. Im nachfolgenden Joseon-Reich wurde die Festung als Marinestützpunkt zur Abwehr japanischer Invasoren genutzt.
Wie mochten sich die Menschen von Jin-do wohl gefühlt haben, als ihre Inselheimat sich so schnell in ein höllisches Schlachtfeld verwandelte? Ein Ort auf der Insel gibt Hinweise darauf. Bis zum heutigen Tag veranstalten die Inselbewohner am ersten Vollmondtag des Jahres in einem Bae Jung-Son, dem Kommandanten der Sambyeolcho, gewidmeten Schrein im Dorf Gulpo-ri Gedenkriten. An dieser Stelle erinnern die Historiker gerne daran, dass die Mitglieder der Sambyeolchoihre Ausweispapiere, aus denen ihre gesellschaftliche Stellung ersichtlich war, verbrannten, bevor sie sich zur Insel Jin-do aufmachten. In der streng hierarchischen Gesellschaft von Goryeo widersetzten sich die Sambyeolcho der bestehenden Ordnung und träumten von einer neuen Gesellschaft, in deren Mittelpunkt das Volk stand. Nachdem der Krieg mit der Niederlage der Sambyeolcho zu Ende gegangen war, verschleppten die Mongolen rund 10.000 Einheimische als Kriegsgefangene und richteten ein Pferdegestüt auf Jin-do ein. Das verleiht der These Glaubwürdigkeit, dass der geliebte koreanische Jindo-Hund, der 1938 offiziell zum Naturdenkmal erklärt wurde, ein Nachkomme eines damals von den Mongolen ins Land gebrachten Schäferhundes und einer einheimischen Hunderasse ist.
Der Byeokpa-Hafen in Jin-do stand erst 300 Jahre später wieder im Rampenlicht, und zwar während der zweiten japanischen Invasion (1597-1598), auch als 'Jeongyu Jaeran“bekannt. Admiral Yi Sun-sin, der im Zuge politischer Fraktionskämpfe Verleumdungen zum Opfer gefallen und degradiert worden war, wurde wieder als Oberbefehlshaber der Marine eingesetzt, um die japanische Flotte aufzuhalten, die zur Unterstützung der Invasionstruppen von Toyotomi Hideyoshi geschickt worden war. Yi konnte jedoch nur zwölf Kriegsschiffe aufbringen, da die koreanische Flotte während seiner Inhaftierung in einer Reihe von Schlachten gegen die Japaner stark dezimiert worden war.
Yi führte seine zwölf Schiffe zur Byeokpa-Fährstelle und hielt Hunderte von japanischen Kriegsschiffen in der engen Uldolmok-Passage (auch als Myeongnyang-Meeresstraße bekannt) zwischen den Häfen Nokjin und Byeokpa fest. Am 26. Oktober 1597 nutzte Yi die schnellen Gezeitenströmungen und Strudel der an ihrer engsten Stelle nur rund 200 Meter breiten Meerenge aus. Die Gezeitenströmungen, die ein Navigieren in der engen Passage extrem erschwerten, neutralisierten die zahlenmäßige Überlegenheit der japanischen Flotte. Sie verlor Dutzende von Schiffen und zog sich schließlich geschlagen zurück.
Von vielen wird Yis erstaunlicher Sieg als brillante Militärstrategie erinnert, durch die sich eine weit unterlegene Streitmacht durchsetzen konnte. Dieser Sieg war jedoch nicht allein den durchtrainierten Soldaten zu verdanken, sondern zum großen Teil auch den Einheimischen von Jin-do, die Yis Anweisungen folgend auf beiden Seiten der Meeresstraße Posten bezogen hatten und die Japaner mit einem Bombardement von Schlachtrufen, Steinen und Pfeilen verwirrten.
Als Admiral Yi sich an die Westküste begab, um seine Streitkräfte neu zu organisieren, nahmen die Japaner an den Einheimischen von Jin-do grausame Rache für die erlittene Schmach. Yi, der 23 Tage später auf die Insel kam, fand nur noch totale Zerstörung vor. In seinem Kriegstagebuch Nanjung Ilgi schreibt er, dass kein einziges Haus mehr stand, keine einzige Menschenseele mehr übrig war und überall lautlose Stille herrschte. Die Folgen für Jin-do waren schrecklich, aber die Schmach der Niederlage, die die Japaner in der Schlacht von Myeongnyang hinnehmen mussten, brachte die entscheidende Wende zugunsten von Joseon und das Ende des sieben Jahre langen Krieges. Heute stehen Statuen von Admiral Yi in Nokjin und auf dem Gwanghwamun-Platz im Herzen der Hauptstadt Seoul.
Frauen schütteln im Seomang-Hafen Gelbfische aus den Netzen. Um die Fische frisch zu halten, müssen sie möglichst schnell eingefroren werden. Während der Gelbfisch-Fangsaison schließen sich die Dorfbewohner daher zusammen, was ein grandioses Bild gemeinschaftlicher Anstrengungen bietet.
Zwei Friedhöfe
Am Straßenrand am Fuße des Berges in der Gegend des Dorfes Dopyeon-ri, die zwischen den Schlachtfeldern von Uldolmok und dem Byeokpa-Hafen liegt, gibt es einen Friedhof mit etwa 230 Gräbern. Der offizielle Name lautet 'Friedhof für die Gefallenen von Jeongyu Jaeran“. Hier liegen die Soldaten der Joseon-Armee, die in der Schlacht von Myeongnyang ums Leben kamen, und die einfachen Leute, an denen sich die Japaner rächten. Bis auf zehn sind alles Gräber von unbekannten Toten. Alle Gräber sind nach Norden in Richtung des in der Haupstadt residierenden Königs ausgerichtet.
Folgt man der Richtung Meer verlaufenden Bergstraße rund neun Kilometer, kommt man zu einer flachen Erhebung namens Waedeok-san. Hier befanden sich einst rund 100 Gräber, und zwar Gräber von japanischen Soldaten, die in der Schlacht von Myeongnyang unter dem Kommando des Kriegsherrn Kurushima Michifusa gekämpft hatten. Als die Leichen dieser Gefallenen an die Küste gespült wurden, bargen die Dorfbewohner sie und begruben sie auf dem sonnigen Hügel in Richtung Süden, der nach Japan blickt. Im Zuge von Landgewinnungsprojekten und Straßenbau wurden viele der Grabstätten beschädigt, heute sind nur noch 50 davon übrig.
Im August 2006, als die Existenz dieses Friedhofs in Japan bekannt wurde, kamen die Nachfahren der Toten und eine Gruppe von Studenten nach Jin-do und besuchten die Stätte unterstützt von den Dorfbewohnern. Eine Lokalzeitung in Hiro- shima, die darüber berichtete, bezeichnete den Friedhof als heiligen Ort und drückte den Bewohnern von Jin-do ihre Dankbarkeit aus. Aus Sicht der Inselbewohner war ihr Mitgefühl aber nichts Besonderes, da die Aussöhnung zwischen den Lebenden und den Toten ein Gebot alter Traditionen ist. Dies spiegelt sich auch im Ssitgim-Gut wider, einem schamanischen Begräbnisritual von Jin-do, das abgehalten wird, um die Verstorbenen von allem Groll zu befreien und ihre Seelen zu reinigen, damit sie Frieden finden können.
Aussöhnung zwischen Lebenden und Toten
Im Zentrum der Buddha-Dreiergruppe im Tempel Yongjang-sa befindet sich ein zwei Meter hoher Medizinbuddha. Der Unterkörper des auf einem Lotuspodest sitzenden Buddha ist vergleichsweise hoch und ausladend, was typisch für buddhistische Darstellungen aus der Goryeo-Zeit ist.
Im Kontext der westlichen Religionen würde das Wort 'Ssitgim“ in etwa der Taufe entsprechen. Tatsächlich sind die religiösen Prinzipien hinter diesen beiden Zeremonien nicht völlig verschieden. Das 'Seelenreinigungsritual“ von Jin-do wird aber je nach Ort und Ursache des Todes anders bezeichnet und auch Procedere und Narrativ der einzelnen Riten sind entsprechend unterschiedlich. Soll z.B. die Seele eines Ertrunkenen gerettet werden, wird das Ritual Geonjigi (aus dem Wasser heben) Ssitgim-Gut abgehalten. Soll die Seele eines Menschen, der weit weg von zu Hause einen einsamen Tod gefunden hat, getröstet werden, wird der Honmaji (Treffen mit der Seele) Ssitgim-Gut durchgeführt. Außerdem unterscheidet sich dieses religiöse Ritual von Jin-do von den schamanischen Riten anderer Regionen durch seine künstlerischen Elemente. Mit seinem einfachen aber zugleich verlockendem 'Tanz für die Götter“ und dem in Form von Gesang und verschiedenen schamanistischen Komponenten vermittelten Narrativ ist der Jin-do Ssitgim-Gut mehr als nur ein religiöses Ritual. Es ist vom Staat als Wichtiges Immaterielles Kulturgut Koreas anerkannt.
In den Tiefen des Verlangens nach Versöhnung zwischen den Lebenden und den Toten lauern auch schmerzhafte Erinnerungen an die Vergangenheit. Die Menschen von Jin-do kennen aus eigener Erfahrung die Fußfesseln der Geschichte, die sich durch Ereignisse wie den Donghak-Bauernaufstand von 1894-1995 und den Koreakrieg von 1950-1953 ergeben haben. Für diese Menschen, die immer wieder Zeugen von ungerechten Massakern an den Bewohnern der Insel waren, war der tragischen Untergang der Fähre Sewol in den Gewässern vor Jin-do im Jahr 2014, der zum Tod von 250 Schülern und 54 Lehrern, Besatzungsmitgliedern und anderen führte, umso herzzerreißender und trauriger. Alle Tode haben etwas Persönliches und zugleich Öffentliches.
Der französische Anthropologe und Ethnologe Claude Lévi-Strauss schrieb in seinem Buch Traurige Tropen: 'Die Vorstellung, die sich eine Gesellschaft von den Beziehungen zwischen Lebenden und Toten macht, reduziert sich letztlich auf das Bemühen, die realen Beziehungen, die zwischen den Lebenden bestehen, auf der Ebene des religiösen Denkens zu verbergen, zu beschönigen oder zu rechtfertigen.“ - Zitiert nach Natur und Kultur bei Claude Lévi-Strauss von Anton Fischer (2003, S. 38).
Vielleicht war dies der Grund dafür, dass die Insel Jin-do nicht anders konnte, als ihre originäre Kultur der Heilung zu bewahren.
Lee Chang-guyDichter und Literaturkritiker
Ahn Hong-beomFotos