Meister Kwon Won-tae (geb. 1967) lässt das Publikum amüsiert lachen und entsetzt aufschreien, während er ‒ nur mit einem Faltfächer in der Hand die Balance haltend ‒ auf einem 3cm dünnen Nylonseil in der Luft läuft und in die Luft springt. Kwon betont, dass der traditionelle koreanische Seiltanz keine reine Zirkusakrobatik ist, sondern eine auf Interaktion mit dem Publikum basierende Form der volkstümlichen darstellenden Kunst.
Während einer im Spätseptember im Palast Deoksu-gung in Seoul präsentierten Abendvorstellung demonstriert Seiltanz-Meister Kwon Won-tae Geojung Dolgi: die Fertigkeit, aus der Sitzposition hochzuspringen, sich um 180 Grad in der Luft zu drehen und sich wieder aufs Seil zu setzen.
Es war nicht leicht, Kwon, der 40 Jahre seines Lebens in der Luft verbracht hat, über das Seil zum Reden zu bringen. Auf meine in seinen Ohren manchmal wohl irrelevant klingenden Fragen antwortete er mit Gegenfragen, wobei seine Stimme immer deutlich nach oben ging. Die komplizierte Gefühlswelt des Seiltänzers zu entziffern war so schwierig wie ein Balanceakt auf dem Seil.
'Was würden Sie machen, wenn Sie einen vereisten Berg hochklettern würden? Da wären Sie doch auch überaus vorsichtig, um nicht auszurutschen und den Hang hinunterzurollen. Daher nannte man Seiltänzer früher auch 'Eoreumsani“ (Eisberg-Kletterer),“ erklärter.
Wie das Erklimmen eines Eisbergs
Aber seine unverkrampften Bewegungen auf dem drei Meter über der Erde gespannten Seil von acht, neun Meter Länge machen die in der Bezeichnung 'Eisberg-Kletterer“ implizierete Gefahr vergessen. Mal läuft er, mal springt er, mal lässt er sich im Reitsitz auf dem Seil nieder, um sich dann in die Luft zu schwingen, zu drehen und wieder auf das Seil zu setzen. Während der gesamten Vorführung präsentiert er gewagte Stunts, die dem Publikum Schauder über den Rücken jagen, wobei es unter dem Seil, seiner Bühne, keine Sicherung gibt.
'Mein Auftritt dauert im Schnitt 30-40 Minuten. Der traditionelle koreanische Seiltanz eignet sich nicht für eine ein- bis zweistündige Aufführung, da der Solotänzer das Publikum gleichzeitig mit Wortplänkeleien und Witzen unterhalten muss. Deshalb würde ich sagen, dass 30-40 Minuten die Grenze ist.“
Kwons Jultagi (Seiltanz) war ursprünglich Bestandteil von Namsadang Nori, der traditionellen volkstümlichen Wanderbühnen-Vorführungen der Joseon-Zeit (1392-1910), die von rein männlichen Truppen gegeben wurden. Heutzutage sind jedoch bei den verschiedenen Festivals im ganzen Land Einzelvorführungen üblich. Während die Zirkusartisten anderer Länder bemüht sind, optisch spektakuläre akrobatische Akte auf dem Hochseil zu inszenieren, ist der Namsadang-Seiltänzer ein Possenreißer, der Akrobatik mit amüsanten Geschichten verbindet. Das rührt daher, dass der koreanische Seiltanz ursprünglich eine volkstümliche Zerstreuung für das einfache Volk war, das in seinem Leben sonst nur harte Arbeit kannte.
'Was die Figuren und Späße beim Seiltanz angeht, folge ich den überlieferten Mustern. Ich variiere sie allerdings etwas je nach Region, Ort, aktuellen gesellschaftlichen Themen und Reaktionen des Publikums“, erklärt Kwon. 'Die Anzahl der Figuren ist nicht so wichtig, da ich je nach Situation immer mal wieder improvisiere.“
Die Bühne
Das Seil ist Kwons ganze Bühne und die einzige Herausforderung, die es zu überwinden gilt. Ich stellte Kwon einige Fragen dazu: Welche Art von Seil verwendet er? Worin unterscheidet es sich von einem Zirkusseil? Wie hat es sich angefühlt, bei dem 2004 in Tampa Bay (Florida) veranstalteten Seiltanz-Wettbewerb das 50m lange Seil in der Rekordzeit von 19,33 Sekunden zu überqueren und damit auf Platz 1 zu landen? Wie war es mit dem 1km langen Seil, das 2007 anlässlich der Hochseil-Weltmeisterschaft in Seoul über den Han-Fluss gespannt wurde, und das er im Wettkampf mit Hochseilartisten aus aller Welt in der Rekordzeit von 17 Minuten und 6 Sekunden überquerte?
'Bei solchen Events werden Drahtseile verwendet, die stark,straff und schwankungsfrei sind. Solche Seile sind 3cm dick und halten eine Zugkraft von 35 Tonnen aus, d.h. sie brechen erst bei diesem Gewicht. Der Vorführende nutzt diese Kraft aus. Beim koreanischen Seiltanz werden weiche Nylonseile verwendet, deren Besonderheit in ihrer Biegsamkeit und Abfederkraft besteht. Umso schwieriger ist es natürlich, darauf das Gleichgewicht zu halten. Es ist vergleichbar mit dem Laufen auf hartem Boden bzw. auf Sand, der so weich ist, dass die Füße einsinken.“
Die Elastizität sei je nach Nylonseil unterschiedlich, die diesbezügliche Entscheidung bleibe dem Seiltänzer überlassen. Auf meine Frage, ob er manchmal Seile anderer Elastizität verwende, runzelt Kwon die Stirn und reibt sich mit beiden Händen übers Gesicht: 'Das Seil ist ein empfindliches Ding. Das Leben eines Menschen hängt ja daran. Deshalb wechselt ein Seiltänzer das Seil nicht so einfach.“
Mit neun aufs Seil
Kwon, der bereits seit über 40 Jahren auf dem Seil tanzt, erklärt, dass traditioneller koreanischer Seiltanz mehr als nur Seilakrobatik ist. Es ist eine Darstellende Kunst, die Interaktion mit dem Publikum durch Wortplänkeleien und Späße beinhaltet.
Ich schaute mir den Videoclip seiner Vorführung noch einmal an. Hatte ich davor nur seine Bewegungen gesehen, so fielen mir nun auch die Kurven auf, die das schwankende Seil beschrieb. Das waren also die Bewegungen eines Menschen, der sich vom Boden befreit hat, und die des Seils, das seine Last auffängt. Kwon schritt auf dem Seil, schlug plötzlich seinen Fächer auf und zog damit Kurven durch die Luft. Für dieZuschauer mochte der Fächer Kwons Bewegungen mehr den Geschmack schöner Unterhaltung verleihen, für Kwon war er ein Mittel, die Balance zu halten. Der Seiltänzer, dessen einziger Fußhalt bei seinem Lauf durch die Luft das Seil ist, muss den Wind unbedingt besiegen, und der Fächer ist sein einzige Instrument dafür.
'Wenn Sie versuchen, mit einem Fächer den Wind zu bewegen, werden sie das Gewicht spüren. Dank dieses Gewichts kann man die Balance halten. Aber das ist nicht alles. Wenn man den Fächer gegen starken Wind hält, wirkt er wie ein Fallschirm. Das Balancieren lässt sich einfach nicht mit Worten erklären.“
Was ist wohl das Allerschwierigste beim Seiltanz? Was könnte den Seiltänzer unweigerlich zum Stürzen bringen? Auf die Fragen hin rieb Kwon sich wieder mit beiden Händen übers Gesicht.
'Das Training auf dem Seil ist dem Wachstumsprozess gleichzusetzen. Während der Körper wächst und das Gehirn reifer wird, entwickeln sich, ohne dass man es merkt, auch die eigenen Fertigkeiten“, antwortet Kwon. 'Man kann also nicht einfach behaupten, dass man ein bestimmtes Niveau überschritten oder etwas gemeistert habe. Mit jeder Vorführung wird man ein Stück reifer und gewinnt an sicherer Perfektion. So ist das beim Seiltanz.“
Im Laufe des Interviews verließ Kwons Seiltanz allmählich die Ebene der reinen Akrobatik und warf Licht auf sein Leben, Denken und Fühlen. Seine Eltern, die selbst Wanderdarsteller waren, machten aus den Neunjährigen kurzerhand einen Wanderbühnenartisten.
Er wehrte sich nicht gegen den ihm aufgezwungenen Lebensweg. Seit Kindesbeinen an war sein Leben unzertrennlich mit dem Seiltanz verbunden und während er zum Seiltänzer heranwuchs, wuchs auch die Person namens Kwon Won-tae heran. Sein Leben war ein einziger und langer Lernprozess, in dem Leben gleich Üben war und umgekehrt.
Wie die 'Zeit des auf dem Seil Aufwachsens“ wohl in Erinnerung geblieben sein mag? Kann diese Erinnerung in zeitliche Phasen eingeteilt werden? Auf diese Frage nach der Skalierung der Leistungsfähigkeit reagierte Kwon mit einer gewissen Abneigung.
'Wenn ich das unbedingt in dieser Begrifflichkeit formulieren muss... Nun, nach etwa zehn Jahren war ich voller Tatendrang. Und furchtlos. Aber ohne das nötige Gespür. Ich war einfach zu beschäftigt damit, dem Trainingsschemata zu folgen,“ erinnert er sich. 'Erst 20 Jahre später hatte ich das Gespür entwickelt und konnte die Vorführung auf meinen jeweiligen physischen Zustand abstimmen. Danach wurde es für mich selbstverständlich, aufs Seil zu steigen und je nach körperlicher Verfassung spontan zu entscheiden, welche Techniken ich vorführen würde. Ich habe jetzt zwar schon 40 Jahre Erfahrung, aber meine Fertigkeiten sind immer noch nicht perfekt. Bei feuchtem Wetter fühlt sich das Seil und auch mein Körper immer noch schwer an. Daran kann ich nichts ändern. In diesem Sinne ist der Seiltanz vergleichbar mit Extremsport, bei dem man auf sich in ständigem Fluss befindende Bedingungen reagieren muss.“
Nachdem er bislang eher trocken auf meine Fragen geantwortet hatte, reagierte Kwon auf meine Frage nach der Höhe des Seils plötzlich leidenschaftlich erregt. Dabei hatte ich lediglich die Seilhöhe von drei Metern bestätigen wollen.
'Die Höhe ist nicht das Entscheidende. Zwischen einer auf dem Boden befestigten Kontruktion von drei Meter Höhe und einem auf gleicher Höhe gespannten Seil besteht ein erheblicher Unterschied. Je höher das Seil, desto höher das Risiko und damit auch die Angst. Es lohnt sich nicht, ein größeres Risiko einzugehen. Der traditionelle koreanische Seiltanz ist kein Hochseil-Stunt, der in brenzliger Höhe über einer Schlucht aufgeführt wird, sondern eher eine Vorführung von Kunststücken auf dem Seil, bei der man Augenkontakt zu den Zuschauern hält und sich mit ihnen unterhält,“ sagt Kwon.
Auch wenn man Stäbchen ein paar Tage lang nicht benutze, vergäße man nicht, wie das geht. Dasselbe gelte für Seil und Seiltänzer. Heutzutage tritt Kwon aus Angst vor Verletzungen bei der Probe ohne Vorbereitung auf. Während der Vorstellung hat er sich zwar hin und wieder verletzt, aber den Gedanken daran verdrängt er. Denn bei der Vorführung könne ihn dann die Angst auf dem Seil in ganz anderer Form und Stärke heimsuchen. Für ihn bedeutet Seiltanzen daher, sich durch Einstellung und Verhalten über die Angst hinwegzusetzen. Auf meine Frage, ob das nicht erhebliches mentales Training erfordere, kam die unerwartete Antwort:
'Ich denke nicht so viel darüber nach. Ich sage mir nur: Das ist dein Job, und er ist gefährlich, also sei vorsichtig! Ich versuche generell, achtsam zu sein. So töte ich z.B. keine lebenden Kreaturen, v.a. keine geflügelten Tiere, die ich weder verletze, noch esse. Denn ich bin ja auch immer hoch in der Luft...“
Auf dem Hochseil des Lebens sollte man mit nach vorne gerichtetem Blick geradeaus gehen, um nicht auf Irrwege zu geraten. Der Wind kann einen zum Schwanken bringen, dann heißt es Balance wahren und weiter geradeaus gehen.
Kwon bei einer Vorführung auf dem Rasen vor dem Nationalmuseum für Zeitgenössische koreanische Geschichte am Gwanghwamun-Platz in der Seouler Stadtmitte. Der Fächer in der Hand ist das sein einziges Werkzeug, mit dem er den Windwiderstand kontrolliert und die Balance hält.
Leben: ein Tanz auf dem Seil
Konnte er Angst und Furcht nicht unter Kontrolle halten, weil sie von Natur aus kommen und gehen, wie es ihnen beliebt? Angesichst dieser unbeherrschbaren Emotionen bleibt ihm nur, Distanz zu halten, wobei er eher symbolische Maßnahmen trifft, um Unglück abzuwehren. Doch bei allem, das er selbst kontrollieren kann, kennt er kein Wenn und Aber:
'Das Seil spanne ich natürlich selbst. Beim Aufstellen der Stützen prüfe ich stets, ob der Boden die Last tragen kann. Entsprechend der geschätzten Zugkraft befestige ich dann das Seil. Ist das Seil nicht richtig befestigt, also wenn es z.B. zu steif und straff ist, ist die Krafteinwirkung auf meinen Körper ernorm. Ich bin der einzige, der die für mich gewohnte und optimale Elastizität des Seils kennt. Daher spanne ich es eigenhändig.“
Ein Seiltänzer, der die Verteilung der physikalischen Kraft auf dem Seil auf seine eigene Weise erläutern kann. Es kam daher nicht unerwartet, als er sagte, dass er einen Beruf im natur- oder ingenieurwissenschaftlichen Bereich gelernt hätte, wenn er eine Wahl gehabt hätte. Er gehe gerne mit Maschinen um und könne einfache Reparaturen mit selbst gebastelten Teilen durchführen. Vielleicht hätte er heute mehr Erfolg im Leben, wenn er in dem Bereich gearbeitet hätte. Meine Frage, ob dieser ihm verwehrte Lebensweg ein unerfüllter Traum wäre, tat er mit der Antwort ab, dass er nie davon geträumt habe.
'Wenn man sich nicht um das tägliche Brot sorgen muss, ist Seiltanz ein ausgezeichneter Job“, sagt Kwon. 'Da ich ihn von der Pike auf erlernt habe, konnte ich ins Ausland reisen und werde respektvoll mit ‘Meister Kwon’ angesprochen. Mein Name steht auch im Guinnes-Buch der Rekorde, und zwar für 12 Geojung dolgi in 30 Sekunden (aus der sitzenden Position hochspringen und sich um 180 Grad in der Luft drehen, bevor man sich wieder aufs Seil setzt). Das sollte doch reichen für ein glückliches Leben, oder?“Aber das ist nicht alles. Kwon trägt auch den Titel 'Meister für Namsadang Nori“, das als Wichtiges Nationales Immaterielles Kulturgut Koreas gilt und auch in der UNESCO-Liste als Immaterielles Kulturerbe eingetragen ist.
Für Kwon ist das Leben ein Seil (Jul): 'Woran halten wir uns bei der Geburt fest? Richtig, an der Nabelschnur (Taet-jul). Das Neugeborene wird mit Schnüren (Jul) in Tücher gewickelt.Und manchmal muss man im Leben an den richtigen Drähten (Jul) ziehen, nicht wahr? Auf dem Hochseil des Lebens sollte man mit nach vorne gerichtetem Blick geradeaus gehen, um nicht auf Irrwege zu geraten. Der Wind kann einen zum Schwanken bringen, dann heißt es Balance wahren und weiter geradeaus gehen. Und wo endet man schließlich? Man wird mit Hanfleinenstreifen (Sam-jul) ins Totengewand eingeschlagen und zu Erde. Das Leben beginnt und endet mit einem Seil.“
Endlich ein Lächeln auf dem Gesicht fragte Kwon, wo es denn im Leben etwas gebe, das nichts mit dem Seil zu tun habe. An welcher Stelle des Seils namens Leben er wohl gerade stehen mag? Mit welcher Leichtigkeit und welch großer Freude er wohl auf diesem Seil gesprungen und getanzt hat? Der heutige Tag mit all den fundamentalen Fragen, die der Seiltänzer aufgeworfen hat, wird genau wie das Seil, auf dem er tanzt, noch lange in mir nachschwingen.