An einer überfüllten Ampelkreuzung. Sobald die Ampel endlich auf Grün springt, rasen Dutzende Mopeds mit halsbrecherischer Geschwindigkeit los, bevor die Autos den Motor beschleunigen können. Das ist ein häufiger Anblick auf den Straßen in Koreas Großstädten. Hunderttausende von Zustellern trotzen jeden Tag Risiken, um Pakete, seien es nun Lebensmittel oder andere Waren, so schnell und sicher wie möglich zu den Kunden zu bringen.
Bevor ich als Schriftsteller debütierte, hatte ich in einem Büroviertel in Seoul koreanische Gerichte ausgeliefert. Auch für ein chinesisches Restaurant in einem Vergnügungsviertel und eine Pizzeria in einem Wohngebiet hatte ich Lieferungen übernommen. Selbst während meines kurzen Aufenthalts in London war ich eine Weile als Lieferbote für ein japanisches Restaurant unterwegs, sodass ich mich wohl als „Lieferant mit Auslandserfahrung“ bezeichnen darf. Aber das stellte sich als völlig nutzlos heraus, als ich nach Korea, der Heimat des Lieferservice, zurückkam. In Großbritannien wird die Zustellung als eigener Beruf angesehen, in Korea jedoch nur als Zeitjob. Hier meine Erinnerungen an einen typischen Tag als Lieferbote.
Lieferboten, die zu Spitzenverkehrszeiten durch die Straßen navigieren, sind ein häufiger Anblick. Da sie in einem beschränkten Zeitrahmen so viele Aufträge wie möglich zu erledigen haben, müssen sie die Straßen wie ihre Westentasche kennen und die effizientesten Routen planen.© NewsBank
Dilemma
„Der langhaarige Junge von nebenan wurde gestern ins Krankenhaus eingeliefert. Hast du schon davon gehört?“
Das teilte mir mein Chef mit trauriger Miene mit, als ich mich gerade auf die Arbeit des Tages vorbereitete. Der Langhaarige war ein Naturtalent, ein wahrer „Liefermeister“. Wenn ich ihm auf der Straße begegnete, staunte ich über sein Können. Er sah wirklich wie ein Profi-Rennfahrer aus. Ich hatte gehört, dass sein Herz wegen einer kurz davor auseinander gegangenen Liebesbeziehung gebrochen war. Und dann noch der Unfall… Das zeigt nur, dass ein Lieferbote jederzeit wachsam und konzentriert sein muss wie ein Chirurg, Analyst oder Pilot, der ja nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde unaufmerksam sein darf. Ein einziger unachtsamer Moment, und schon liegst du auf der Straße.
Während meiner Lieferrunden kam es vor, dass ich sogar in der sengenden Sommerhitze in kalten Schweiß ausbrach: Wenn ich ein Moped sah, das achtlos am Straßenrand stand, eins, das ganz offensichtlich nicht ganz normal dort geparkt war. Bei näherer Betrachtung stellte sich dann heraus, dass das Speichenrad verbogen oder die Seite schrecklich verkratzt war. Das Moped war zur Seite geräumt worden, um die Straße frei zu machen, nachdem der Fahrer in einem Krankenwagen weggebracht worden war. Bei den Auslieferern kommt es nur allzu leicht zu Unfällen. Wenn einer, der auf der Straße regelmäßig zu sehen war, plötzlich nicht mehr zu sehen ist, bedeutet das, er ist entweder verletzt oder tot.
„Daher solltest auch du mit dem Beschleunigen vorsichtiger sein. Hör auf, wie ein Verrückter herumzusausen, okay?“
Mein Chef machte sich Sorgen um meinen Fahrstil.
„Ich bin schon okay. Hab eh nichts zu verlieren.“
„So ein Stuss! Ich darf dich nicht verlieren. Also fahr vorsichtiger.“
Seine Ermahnung war herzerwärmend, aber auch sehr vernünftig.
Jeder kann als Mopedkurier arbeiten, solange er einen Führerschein und keine Angst hat. Je nach Zahl der Zustellungen pro Tag kann ein Lieferant ein recht beachtliches Einkommen erzielen. Außerdem muss er sich nicht wie bei normalen Firmen durch eine starre Bürokultur oder einen altmodischen Chef stressen lassen. Trotzdem sind Mopedkuriere Mangelware, denn sie sind vielen Gefahren ausgesetzt. Es sind zu viele Idioten auf der Straße unterwegs und in Korea, wo es viel zu einfach ist, den Führerschein zu machen, müssen die Lieferboten immer damit rechnen, von einem Fahranfänger angefahren zu werden.
Die Lieferboten riskieren ihr Leben für schnellstmögliche Lieferung und höheren Verdienst. Motorradunfälle ereignen sich genauso wie Wildunfälle. Leider glauben viele, dass ihre Mopeds schneller sind als Autos. Mopeds scheinen nur wegen ihrer geringeren Größe wendiger, aber sie sind weder schneller noch leistungsstärker. Eine sichere und langsamere Lieferung bedeutet jedoch weniger Einnahmen. Der einzige Ausweg aus diesem prekären Dilemma besteht darin, den Jackpot zu knacken. Ich wette, dass fast jeder Lieferbote einen Lottoschein in der Tasche hat.
Ein Auslieferer für Ddingdong, einem für das Stadtviertel Gangnam zuständigen Lieferdienst, lädt eine in einem Imbiss georderte Bestellung auf seinen Roller. Kleine Restaurants, die sich keine eigenen Lieferboten leisten können, nutzen Lieferplattformen. © NewsBank
Know-How
Elf Uhr vormittags. Das Bestelltelefon klingelt wie verrückt. Während des Zwei-Stunden-Fensters um die Mittagszeit muss jeder Zusteller rund 30 Lieferfahrten erledigen. Eine Lieferung dauert circa fünf Minuten, das macht 12 Runden pro Stunde und 24 in zwei Stunden. Aber für viele Strecken braucht man länger als fünf Minuten, weshalb er mehrere Lieferungen auf einmal machen muss. Daher entscheidet das räumliche Orientierungsvermögen über die Fähigkeiten eines Essensboten. Er erstellt im Kopf einen Bewegungsplan mit den kürzesten Verbindungen zwischen den einzelnen Adressen, um möglichst viele Lieferungen zu schaffen. Das verlangt Köpfchen: Die Menge die man auf ein Moped laden kann, ist beschränkt, ebenso die Zeit fürs Hin- und Zurückfahren. Ein echter Profi ist jemand, der eine klare Vorstellung vom jeweils effizientesten Lieferweg im Kopf hat.
Auch sollte man einen scharfen Blick für die Verkehrsbedingungen im jeweiligen Zustellungsgebiet haben. Bevor man am Zielort ankommt, muss man wissen, wann die Ampel an der Kreuzung vor dem Geschäft umspringt und flugs kalkulieren, ob es schneller ist, die Treppe oder den Aufzug zu nehmen. Ein erfahrener Kurier schärft seinen sechsten Sinn, um vorherzusagen, was aus der nächsten Gasse herausspringen wird und ob ein von der anderen Seite kommendes Auto plötzlich einen U-Turn machen will. Ein „Meister“ kann ein Gefühl der Erfüllung spüren, wenn er das schafft, was andere nicht schaffen.
Ich mache mich zu meinem Ziel auf. Ich hoffe, dass das Auto vor mir kein Verkehrszeichen überfährt, dass kein Fahrrad aus heiterem Himmel wie ein Reh aus der Gasse schießt, dass ich niemanden anfahre, dass mein Moped an der Ecke nicht auf einer Bananenschale ins Rutschen kommt, dass es keine Schlaglöcher gibt, die mich einen Purzelbaum in der Luft schlagen lassen. Ich muss irgendwie überleben und weiterleben. Aber sobald ich losfahre, habe ich nur einen Gedanken: Vermeide, zu spät zu kommen und dich vom Kunden aussschimpfen zu lassen!
Die Menge die man auf ein Moped laden kann, ist beschränkt, ebenso die Zeit fürs Hin- und Zurückfahren.
Ein echter Profi ist jemand, der eine klare Vorstellung vom jeweils effizientesten Lieferweg im Kopf hat.
Ein für eine Hühnchenkette arbeitender Lieferbote fährt spätabends durch die Fressgasse in der Nähe der im östlichen Stadtgebiet von Seoul gelegenen Konkuk Universität. © Shutterstock; Photo by Kelli Hayden
Demütigung
Mein erstes Lieferziel heute ist ein Büro, in dem die Leute unausstehlich sind. Sie sprechen immer herablassend mit mir und fluchen, wenn ich auch nur ein bisschen später ankomme. Sie scheinen ein vulgäres Gefühl der Überlegenheit zu haben und zu denken, dass Menschen, die körperliche Arbeiten wie Essenszustellungen machen, einer niedrigen sozialen Schicht angehören und daher ruhig grob behandelt werden dürfen. Jedes Mal, wenn ich das Geschirr abhole, platzt mir der Kragen.
„Ich habe Sie doch gebeten, keinen Abfall in die Schüsseln zu werfen.“
Kein einziger reagiert darauf. Für sie bin ich ein „Unsichtbarer“. Sie bezahlen nicht einmal sofort. Wenn ich darum bitte, im Rechnungsbuch für die monatlichen Bestellungen zu unterschreiben, lassen sie sich absichtlich Zeit, als würden sie für einen Riesenbetrag unterzeichnen. Manchmal tragen sie schon mal heimlich nur drei Protionen ein, obwohl sie vier bestellt haben. Wenn ich dann am Monatsende zum Kassieren gehe, schreien sie mich sogar an:
„Hergottnochmal! Wir haben doch gesagt, wir zahlen später! Glaubst du etwa, wir würden dich um diese lächerliche Summe betrügen, ha?“
Aber eines Tages machten sich die Leute in diesem Büro aus dem Staub, ohne ihre überfälligen Rechnungen zu bezahlen. Völlig geladen versuchten mein Chef und ich, die Kerle aufzuspüren, aber ohne Erfolg. Heutzutage werden Vorauszahlungen online oder per App gemacht, was solche Vorfälle verhindert. In diesem Punkt ist die technologische Entwicklung nur zu begrüßen.
Mein nächstes Ziel ist eine Fabrik. Dort herrscht hektische Betriebsamkeit. Ich frage mich, ob die Arbeiter überhaupt Zeit zum Essen finden. Als ich gehe, bemerke ich, dass alle blutunterlaufene Augen haben. Auch meine Augen sind rot von all den Dämpfen und dem Staub auf der Straße. Mir bleibt nicht die Zeit, um zu vergleichen, wer wohl ärmer dran ist: sie oder ich. Als ich zu meinem nächsten Ziel, einem Motel, eile, fängt es an, in Strömen zu regnen. Ich habe Halluzinationen von klingelnden Telefonen: Bei schlechtem Wetter gehen ja mehr Bestellungen ein.
Ich nehme meinen Regenmantel heraus, ziehe ihn an und wickele mir ein Handtuch um den Hals, aber nicht mal das reicht aus, um den Regen abzuhalten. Die Regentropfen, die beim Dahinsausen auf meinen Körper niedergehen, sind stechend und machen mich schwermütig. Durchnässt und erschöpft schlurfe ich mit schweren, vom Regen durchgeweichten Füßen ins Motel. Ein Mann, mit nur einem Handtuch um seinen nackten Körper gewickelt, öffnet die Tür und nimmt die Lieferung entgegen. Er hat wohl Essen bestellt, weil es ihm zu lästig war, sich anzuziehen. Ja, ich wünsche ihm, dass er sich mehr ausruht und mehr liebt, anstatt seine Zeit mit Anziehen zu verschwenden. Auf meinem Weg zurück zum Restaurant, wo die nächste Auslieferung schon auf mich wartet, hoffe ich, dass sein Leben weniger hektisch sein wird, dass seine Lebensqualität sich verbessert und dass auch mein Leben einmal so sein wird.
Kompromiss
Zurück im Restaurant werden die auszuliefernden Speisen langsam kalt. Ich packe sie schnell zusammen und fahre los, bevor sie noch kälter werden. Die Leute bestellen das Essen nicht, weil es so köstlich schmeckt. Es ist auch kaum zu erwarten, dass Essen in einer mit Plastikfolie abgedeckten Plastikschüssel, das in einer Lieferbox hin- und hergeschüttelt wird, besser schmeckt als ein warmes Gericht, das in einem netten Restaurant von einem Koch zubereitet, optisch ansprechend auf dem Teller arrangiert und von einer freundlichen Bedienung serviert wird. Die Leute lassen Essen liefern, weil es bequemer ist, als in ein Restaurant zu gehen und Schlange zu stehen. Und wer keinen sensiblen Gaumen hat, legt wohl kaum besonderen Wert auf den Geschmack.
Die Essenauslieferungen führen jedoch zu einer enormen Zunahme des Einwegverpackung-Aufkommens, eine der Hauptursachen für die Umweltverschmutzung durch Mikroplastik. Eine Frage nach der anderen steigt in meinem Kopf auf: Ist eine Kultur, in der alles überall und jederzeit bis zur Haustür gebracht werden kann, etwas, auf das man stolz sein kann? Besteht ein Zusammenhang zwischen florierender Lieferbranche und höherer Lebensqualität? Gibt es noch einen weiteren Vorteil von Koreas fortschrittlicher Lieferkultur außer dem Gefühl der Erleichterung, dass man zumindest nicht verhungert, wenn man wegen der Corona-Pandemie Ausgangsbeschränkungen hinnehmen muss? Dabei besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass man an einen Lieferanten gerät, der durch ständigen Zeitdruck gereizt ist und es satt hat, von der Gesellschaft geringgeachtet zu werden. Kann der Vorteil, das gewünschte Essen überallhin, wo man gerade ist, geliefert zu bekommen, all die zahlreichen Probleme ausblenden? Und vor allem: Ist es in Ordnung, aus reinen Bequemlichkeitsgründen die Umwelt zu vernachlässigen?
Liefermopeds schlängeln sich durch enge Gassen, um Staus zu vermeiden. Da es in Korea keine ausgewiesenen Mopedparkplätze gibt, können sie überall abgestellt werden, sogar auf Fußwegen und an Zebrastreifen. Die Fahrer haben keine Bedenken, Verkehrsverstöße zu begehen, z. B. Verkehrszeichen zu missachten oder sogar gegen die Fahrtrichtung zu fahren. Da Mopeds in den Seitenspiegeln von Autos nicht leicht zu sehen sind, machen die Mopedfahrer mit lautem Auspuffknattern auf sich aufmerksam oder erschrecken auch schon mal Autofahrer mit ihrem unberrechenbarem Fahrverhalten. Es ist praktisch unmöglich, Essen pünktlich zuzustellen und dabei alle Verkehrsregeln einzuhalten.
Aber ein Lieferant hat nicht die Zeit, Gedanken daran zu verschwenden. Er spürt instinktiv, dass jemand mit knurrendem Magen sehnsüchtig auf ihn wartet. Also konzentriert er sich und fährt mit voller Geschwindigkeit. Meine letzte Lieferung für diesen Tag geht an eine Firma, die eine Büroparty veranstaltet. Da es eine Großbestellung ist, wackelt mein Moped, als ich es mit all dem Essen belade. Bei der Ankunft werde ich von einem Haufen fröhlicher Menschen begeistert begrüßt. Sie stoßen entspannt unter einem Glückwunschplakat an. Alle sehen glücklich aus, als hätten sie etwas gemeinsam erreicht. Zustellungen an einen Ort wie diesen machen den Job eine Spur lohnender. Als ich hinausgehe, kommt jemand auf mich zu, um mir Trinkgeld zu geben. Er sagt höflich: „Es war eine große Bestellung. Sie muss ganz schön schwer gewesen sein. Und vielen Dank, dass Sie auch bei diesem Regen noch geliefert haben.“ Das Trinkgeld und die warmen Worte machen die Müdigkeit, die sich den Tag über aufgestaut hat, vergessen.
Endlich ist der Tag vorbei! Es war ein langer Tag. Wegen des schweren Helms und der Haltung beim Fahren sind mein Nacken und meine Schultern steif wie Rinder-Dörrfleisch, meine Finger sind vom Regen ganz schrumpelig geworden und meine Arme und Beine sind schlaff, da ich unzählige Male Treppen hoch- und runterrasen musste. Es ist noch eine letzte Lieferung übrig: meinen müden Körper nach Hause zu liefern und auf mein gemütliches Bett zu verfrachten. Eine Melodie pfeifend starte ich mein Moped.