Indem junge Künstler der traditionellen koreanischen Musik zeitgenössische Elemente hinzufügen, rufen sie eine neue Richtung der Koreawelle Hallyu ins Leben, die sich deutlich von K-Pop unterscheidet. Das wachsende Ansehen, das sie genießen, ist dem Format der Meister, die vor ihnen auf der Weltbühne auftraten, und den Bemühungen der Veranstalter hinter den Kulissen zu verdanken.
Vor einer Weile begleitete ich eine Gruppe von Musikern zu einem Auftritt im Ausland. Wir beschlossen, nach der Aufführung einen Ausflug zu machen. Ein Frühlingstag in der Wüste. Wenigstens für diesen einen Tag wollten wir ganz frei sein und auch Kunst und Bühne vergessen. Vor uns hin summend, machten wir uns auf den Weg zu einem „kühlen Bach“. Als wir die Füße ins Wasser tauchten, waren wir überrascht, wie warm es war. Das machte uns noch einmal bewusst, dass wir uns in einer arabischen Region befanden. Gerade in dem Moment drangen rhythmische Klänge vom anderen Bachufer zu uns herüber. Wir blickten auf und sahen einige Jungs, die etwas Trommelähnliches trugen, auf dem sie einen Beat spielten. Gleich vergaßen wir unsere Absicht, die Musik einen Tag lang Musik sein zu lassen. Einer nach dem anderen näherten wir uns den Jungs und ehe wir es uns versahen, sangen und tanzten wir schon zu ihrem Trommelrhythmus. Wir kannten zwar nur zwei arabische Ausdrücke – „as-salam aleikum“ (Friede sei mit dir) und „shukran“ (danke) – aber das reichte, um zu kommunizieren und zusammen zu lachen.
Als Teil des achten, 2005 veranstalteten Seoul International Dance Festivals wurde im CJ Towol Theater des Seoul Arts Center The Perfect and Precious Dances by Virtuosos gezeigt. Sechs Tanzveteranen zeigten die Schönheit und Kraft, die dem traditionellen koreanischen Tanz innewohnt. Hier sind vier von ihnen: von links, Kim Su-ak (1926-2009), Kim Deok-myeong (1924-2015), Kang Seon-yeong (1925-2016) und Lee Mae-bang (1927-2015). © NewsBank
Kim Hae-sook bei der Aufführung von Gayageum Sanjo zusammen mit dem Streichquartett der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar beim Rudolstadt Festival im Juli 2014. Sie war die erste prominente Persönlichkeit aus Korea auf dem deutschen Weltmusikfestival. © Jeonju International Sori Festival
Virtuosen auf der Weltbühne
The Perfect and Precious Dances by Virtuosos (koreanisch: „Jeonmuhumu“. Die Koreanische Bezeichung bedeutet: 1. vollkommenster Tanz, wahrer Meister, 2. nie da gewesen und nie wiederkehrend) war eine im Jahr 2015 präsentierte Darbietung von sechs Tänzern mit einem Durchschnittsalter von 80 Jahren. Die für ihre Bravour bekannten GroßmeisterInnen tanzten zur Musik einer Gruppe renommierter InstrumentalistInnen, die in einer langen Reihe auf einer Matte auf der Bühne saßen. Inszeniert wurde die Vorstellung von Jin Ok-sub (geb. 1965), Regisseur im Bereich der Traditionellen Darstellenden Künste und Vorsitzender der Korea Cultural Heritage Foundation. Die Aufführung war Teil des 8. Seoul International Dance Festival, auch bekannt als SIDance.
Im Publikum war auch Gisèle Depuccio, Stellvertretende Direktorin des Festivals Montpellier Danse. Sie beschloss an Ort und Stelle, die Virtuosen für das Jahr darauf nach Frankreich einzuladen, und zwar für eine Aufführung unter dem Titel Trésors vivants (Lebende Schätze). Da sich 2006 das 120-jährige Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Frankreich und Korea jährte, stimmte das Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus bereitwillig zu, die Flug- und Frachtkosten der Darsteller zu übernehmen, während die Hauptgeschäftsstelle des Festivals die hohen Buchungsgebühren und sonstige Ausgaben tragen wollte. Es sollte zwei Aufführungen geben: eine in der Opéra Comédie in Montpellier, die andere im Théâtre national de la Danse et de l'Image de Châteauvallon in Toulon.
Doch die Zeit verfloss zu schnell für die Tänzer. Im Laufe des darauffolgenden Jahres traten einige von der Bühne des Lebens ab, die Röcke ihrer langen Roben elegant hinter ihnen herschwebend. Das Team schaffte es dann doch noch ins Flugzeug, da man einige Mitglieder ersetzen konnte, wodurch das Durchschnittsalter leicht sank. Nach ihrem Auftritt in der Opéra Comédie am Place de la Comédie in Montpellier war der Theatervorplatz voll mit Zuschauern, die nicht nach Hause wollten. Die Darsteller waren erschöpft, fühlten sich aber verpflichtet, mit der Menge zu feiern. Die koreanische Perkussion-Gruppe Noreum Machi (Spielmeister; wörtlich: Spielvollender), die als unterstützende Instrumentalisten teilnahm, spielte einige Madang-Nori-Stücke (Madang: Hof; Nori: Spiel. Volkstümliche Tänze, Musik, Theater usw. werden sprachlich und begrifflich als „Spiel (Nori/Noreum)“ verstanden.). Es war eine Galavorstellung und sowohl die lokale Presse als auch Le Monde interviewten Lee Yun-seok (geb. 1949), Tänzer und zugleich Bauer, der zu Hause gelegentlich das Gießen seiner Weinreben unterbrach, um draußen in den leeren Reisfeldern zu tanzen, bevor er dann wieder zu seinem Gewächshaus zurückkehrte. Korrespondenten der Agence France-Presse (AFP) schickten fleißig Fotos von Kim Deok-myeongs (1924-2015) maskulinem Kranichtanz an die Redaktionen. Zu Tränen gerührt, meinte einer der Theatermitarbeiter: „Jang Geum-dos (geb. 1929) Salpuri (traditioneller exorzistischer Tanz) hätte die Seele meiner toten Mutter getröstet.“
Gayageum Sanjo: École Choi Ok-Sam, 2012 produziert von Ocora Radio France. Harmonia Mundi veröffentlichte das Album in über 60 Ländern und stellte so die Sanjo- Instrumentalmusik der Welt vor.
Chant Arirang et Minyo, 2014 von Ocora Radio France veröffentlicht, enthält Aufnahmen von Lee Chun-hee, einem Meistersänger von Gyeonggi Minyo, in der Region Gyeonggi-do tradierten Volksliedern.
Lee Chun-hee singt bei einem gemeinsamen Konzert von Meistermusikern, das im April 2011 im Palast Deoksu-gung von der Korea Cultural Heritage Foundation veranstaltet wurde. © Yonhap News Agency
Die Fusion-Gugak Band Jambinai spielt im April 2017 im Palác Akropolis in Prag. In der vordersten Reihe: von links, Kim Bo-mi auf der Fidel Haegeum, Lee Il-woo auf der Gitarre und Shim Eun-yong auf der sechssaitigen Zither Geomungo. Im Hintergrund ist Yoo Byeong-gu auf der Bassgitarre zu sehen. © Song Jun-ho
Eine Szene aus Nordkoreanischer Tanz, 2018 von der Ahn Eun-me Company im Arko Arts Theater in Seoul uraufgeführt. Das Stück wurde 2019 vom Pariser Théâtre de la Ville als saisonales Event gewählt und auch als Schlussshow des Festival Pays de Danses, das im Februar 2020 vom belgischen Théâtre de Liège veranstaltet wurde. © Gadja Productions
Internationale Glaubwürdigkeit
Auf der E-Commerce-Website Amazon finden sich Meisteralben, die bei Fans traditioneller koreanischer Volksmusik begehrt sind. Das renommierte Plattenlabel Ocora Radio France produzierte 2012 Coreé: Gayageum Sanjo - École Choi Ok-sam, in dem das Solostück für Gayageum (zwölfsaitige Zither) von Kim Hae-sook (geb. 1955) gespielt wird. Das Maison des Cultures du Monde (Französisches Zentrum für das Immaterielle Kulturerbe) veröffentlichte Alben von zwei weiteren Instrumentalisten: 2012 von Kim Young-gil (geb. 1961) auf der Aejang (siebensaitige Zither) und 2013 von Lee Jae-hwa (geb. 1954) auf der Geomungo (sechssaitige Zither). Die Platten erhielten positive Kritiken von englischen und deutschen Musikrezensenten, weshalb man ruhig behaupten kann, dass die Musik dieser Meister die Ohren eines Weltklasse-Publikums betört hat.
Im selben Jahr, 2012, als das koreanische Volkslied Arirang von der UNESCO in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen wurde, trat aus diesem Anlass Lee Chun-hee, Meistersängerin des Gyeonggi Minyo (Genre der traditionellen Volkslieder aus der Provinz Gyeonggi-do) im UNESCO-Hauptquartier in Paris auf. 2014 wurde sie dann zum Festival de l’Imaginaire – einer Traumbühne für die meisten koreanischen Künstler – eingeladen, um bei der Eröffnung aufzutreten. Wenn sich lange Jahre harter Arbeit und Training auszahlen und man es an die Spitze schafft, wird wohl sogar das Geräusch des Atmens zur Kunst. Viele talentierte Jungmusiker würden für so eine Chance, die Lee quasi in den Schoß fiel, ihr Leben geben. Künstlerisches Können alleine reicht jedoch selten für den Sprung auf die begehrtesten Bühnen der Welt. Es war Kim Sun-kook, der einzige koreanische Musikproduzent von Radio France und CEO der Just Music & Publishing, Inc., der den koreanischen Künstlern die Türen sowohl zum Rudolstadt Festival, dem Folk-Roots-Weltmusik-Festival Deutschlands, als auch zum Festival l’Imaginaire öffnete. Kim weigerte sich aber bescheiden, die Lorbeeren dafür einzuheimsen: „Ich freue mich, wenn den Meistern, die ihr Leben ihrer Kunst gewidmet haben, die gebührende Anerkennung gezollt wird.“
Die koreanische Musikszene feuert weiter aufsteigende Talente an und internationale Musikagenten, die sie schnell erkennen, zählen inmitten der COVID-19-Pandemie die Tage, bis die Künstler wieder fliegen dürfen.
Star-Künstler
Jedes Jahr finden auf der ganzen Welt zahlreiche Musikveranstaltungen statt und noch bis vor einigen Monaten bereitete es einiges Kopfzerbrechen, wie die bei Auslandsengagements anfallenden Reisekosten all der inländischen Gruppen aufgebracht werden sollten. Dass immer mehr koreanische Musiker auf internationalen Bühnen auftreten und zahlreiche einheimische Musiktermini in verschiedene Sprachen übersetzt werden, ist den jungen Künstlern zu verdanken, die Traditionen fortsetzen und mit einem modernem Touch versehen.
Insbesondere die Band Jambinai versetzte die Weltmusikindustrie in Staunen, indem sie die traditionelle koreanische Musik Gugak (wörtlich: Musik des Landes) mit an Heavy Metal erinnernden Rockrhythmen mischte. Die eher als „Trendsetter, denn Trendfolger“ bekannte Gruppe ist öfter im Ausland statt in ihrer Heimat anzutreffen. Die Art und Weise, wie Jambinai die Distributionsmärkte strategisch nutzte oder Verträge mit bekannten Musiklabels abschloss, eröffnete ihren jüngeren Künstlerkollegen und auch der koreanischen Musikszene als socher neue Perspektiven in Bezug auf den internationalen Austausch. Auf dem Rücken des Erfolgs der Band tun sich auch andere Musiker mit Branchenexperten zusammen, um einen systematischen Ansatz für globale PR-Arbeit zu verfolgen.
Unter den Weltmusik-Genres aus Korea besitzt allen voran Fusion Gugak das höchste Potential für den Sprung auf die Weltbühne, weshalb es auch entsprechend aktiv ist.
Die koreanische Künstlerin, die die internationale Gemeinschaft der Darstellenden Künste mit besonders offenen Armen empfängt, ist Ahn Eun-me (geb. 1962). Nach dem Studium des Traditionellen Koreanischen Tanzes setzte sie ihr Studium in New York fort und debütierte schließlich als zeitgenössische Tänzerin. Ihre Darstellungen sind eine lebendige Mischung aus spektakulären Farben und energischen Bewegungen. Jedes Werk hat seine Geschichte und sie geht stets auf das Publikum zu, um ihre Botschaft zu vermitteln: „Lasst uns jetzt alle zusammen glücklich sein!“ Wahrscheinlich ist es diese Message, die den französischen Veranstalter Jean-Marie Chabot hart arbeiten lässt, um Ahn zu internationalem Erfolg zu verhelfen. Chabot sagt, Ahn auf der Bühne zu sehen wärme sein Herz und mache ihn glücklich.
Lee Hee-moons (geb. 1976) Karriere als Schüler der Meistersängerin Lee Chun-hee begann damit, dass er das Volkslied-Genre mit eigenwilligen Elementen des Tanzes und der Philosophie von Ahn Eun-me verband. Das „Idol aus Joseon“ sorgte mit seiner „sehenden Musik“ für Furore. Er ist ein Sänger, der seinem Publikum „Lasst uns spielen!“ zuruft, aber auch ein Schauspieler, der sich die fabulöse Pracht, die Ahn Eun-me auf der Bühne zeigt, zu eigen gemacht hat. Lee, der in Netzstrümpfen, Paillettenkleidern und rosa, gelben oder blauen Perücken auftritt, zieht auf der Bühne eine harte Show ab, die das Publikum zum Glühen bringt. Er war Leadsänger der Gruppe SsingSsing, als sie zum globalFEST 2017 in New York eingeladen wurde und als einzige asiatische Gruppe Aufmerksamkeit auf sich zog. Seine radikal innovative Darbietung dort brachte ihm den Spitznamen „Lady Gaga des Minyo“ ein und National Public Radio (NPR) nannte SsingSsing eine der Spitzenentdeckungen des Festivals. 2019 wurde SsingSsing die erste Gruppe aus Korea, die bei Tiny Desk Concerts von NPR auftrat – eine Videoserie, bei der Stars wie Adele und John Legend zu Gast waren – und SsingSsing Show verzeichnete mehr als fünf Millionen Aufrufe (Stand August 2020).
Sänger Lee Hee-moon (Mitte) bildete die Projektgruppe OBANGSINGWA (OBSG; bedeutet „Zusammen mit den Gottheiten von fünf Richtungen“) zusammen mit dem Folksong-Duo NomNom und der Band Heosongsewol (Verlorene Zeit). Lee und Shin Seung-tae (links) von NomNom waren Mitglieder der Gruppe SsingSsing, die 2019 mit ihrem Auftritt bei den NPR’s Tiny Desk Concerts in Washington D.C. für einiges Aufsehen sorgten. © Kwak Ki-gon
Auf die digitale Bühne
Die koreanische Musikszene feuert weiter aufsteigende Talente an und internationale Musikagenten, die sie schnell erkennen, zählen inmitten der COVID-19-Pandemie die Tage, bis die Künstler wieder fliegen dürfen. Die weltweite Epidemie stellte die Welt über Nacht auf den Kopf und uns damit vor die Frage, auf welche digitalen Plattformen wir die wunderschöne Musik und faszinierenden Tänze, die wir mit der ganzen Welt teilen möchten, hochladen sollen. Wir haben weder die finanziellen Mittel, um mit Netflix zu konkurrieren, noch die Technologie, um die neue Mediengeneration zu begeistern, die jetzt auf Extended Reality (XR) steht. Ebenfalls nicht abzuschätzen ist, wie lange das Publikum noch geduldig auf Offline-Auftritte zu warten bereit ist. Gleichwohl lassen wir den Künstlern Zeit, die Korea in der Welt bekannter gemacht haben, sich immer noch nach Publikumsapplaus sehnen und auch heute dafür Mikrophon und Instrumente nicht aus der Hand lassen, bis sie endlich wieder auf Live-Bühnen das Publikum des Globalen Dorfes für sich einnehmen können.