Ein nach Süden ausgerichtetes Haus, wieder – die Ende 2020 präsentierte Gemeinschaftsausstellung einer jungen, aus Nordkorea geflohenen Frau und ihrer Mentorin und Kunsttherapeutin zog viele Zuschauer an. Betont wurden die Bemühungen um gegenseitiges Verständnis zwischen Süd- und Nordkoreanern und ihr gemeinsamer Wunsch nach Wiedervereinigung.
Als nordkoreanischer Flüchtling vergleicht die Künstlerin Koi sich selbst mit einem Fisch, der aus seinem Fischglas gesprungen ist, um frei im breiten Fluss zu schwimmen. Der als „Bro-katkarpfen“ bekannte Koi wird im Fischglas nicht größer als fünf bis acht Zentimeter, während er im Fluss die beträchtliche Größe von 90 bis 120 Zentimetern erreichen kann. Ihr Künstlername „Koi“ steht für den kühnen Traum, den sie im „weiten und freien Land“ Südkorea zu verwirklichen versucht.
Im Dezember 2008 verließ die damals 18-jährige Koi allein ihre Heimat in Cheongjin, Provinz Hamgyeongbuk-do, und floh auf Anraten eines engen Freundes, der bereits mit seiner Familie im Süden lebte, über die Grenze nach China. Ihre Eltern, die sie vor den harten Strafen im Falle eines Scheiterns warnten, konnten sie nicht umstimmen. Nach vielen Aufs und Abs bei ihrer Odyssee via China und Thailand betrat Koi schließlich im März 2009 ihr „Traumland“ Südkorea. Zurückbli-ckend sagt sie, sie sei sich der Risiken der Flucht, auf die sie sich als 18-Jährige einließ, genau so wenig bewusst gewesen wie das sprichwörtliche „neugeborene Kalb, das keine Angst vor dem Tiger hat“. Könnte sie noch einmal in die damalige Zeit zurückkehren, würde sie das Wagnis nicht einmal im Traum auf sich nehmen.
Koi, die in Nordkorea die Oberschule abgeschlossen hat, träumte davon, in Seoul Bildende Kunst zu studieren. Sie besuchte die Heavenly Dream School, eine alternative Schule für nordkoreanische Flüchtlinge in Seongnam, Provinz Gyeonggi-do, und büffelte für die Uniaufnahmeprüfung. 2012 wurde sie von der Fakultät für Textilkunst und Modedesign an der Hongik Universität angenommen. Sie war die erste nordkoreanische Studentin in dieser Fakultät.
Karte der Koreanischen Halbinsel, eingebettet in Sigma, Shin Hyung-mee und Koi. 2020. Acrylfarben auf Holz. 160 × 100 cm.
Eine Kollaboration von der aus Nordkorea geflohenen Koi und Shin Hyung-mee, ihrer südkoreanischen Mentorin und Kunsttherapeutin, präsentiert im Rahmen der im November 2020 in Seoul ausgerichteten gemeinsamen Ausstellung Ein nach Süden ausgerichtetes Haus, wieder. Das mathematische Summenzeichen Sigma steht für die Ganzheit aller Einzelteile.
Unit Harmony. Koi. 2020. Spezialfasern. 100 × 100 cm.
Dieses von Koi gefertigte Exponat bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass aus vielen Wünschen nach Wiedervereinigung irgendwann ein vereintes Korea wird. Die Künstlerin sagt, dass mit Wünschen beschrifteten Papierflieger sie zu diesem Werk inspirierten.
Zufall oder Schicksal
Während des Studiums lernte Koi in der Vereinigung junger Christen aus Nordkorea die Kunsttherapeutin und Künstlerin Shin Hyung-mee kennen. Shin erinnert sich noch lebhaft daran: „Schon bei unserer ersten Begegnung 2013 ist mir sofort aufgefallen, dass Koi sehr positiv und lebensbejahend eingestellt ist. Damals nahm ich an einer psychologischen Gruppenberatung für junge nordkoreanische Flüchtlinge teil, die von der Koreanischen Methodistischen Kirche gefördert wurde, wobei ich erfuhr, dass Koi inbrünstig auf eine persönliche Betreuung hoffte. Seitdem begleite ich sie als Mentorin. Koi ist stets dankbar für alles, was ich ihr gebe, und entwi-ckelt sich immer weiter.“
Die Ausstellung Ein nach Süden ausgerichtetes Haus, wieder, bei der die beiden Künstlerinnen unter dem Thema „Wiedervereinigung“ neun Werke präsentierten, fand vom 25. bis zum 30. November im Topohaus im Seouler Stadtviertel Insa-dong statt. Sie ist das Ergebnis ihrer besonderen Beziehung als Mentorin und Mentee und die erste Bühne, auf der Koi als Künstlerin auftrat. Die Ausstellung fand im Rahmen des Projekts zur Unterstützung der Content-Schaffung statt, das vom Vereinigungsministerium unterstehenden Kulturzentrum für interkoreanische Integration organisiert wurde. Shin und Koi präsentierten drei gemeinsame Werke und jeweils drei Einzelarbeiten. Die Exponate, die verschiedene Genres wie Malerei, Textilkunst, Installation sowie das Farbenprojekt umfassen, bringen den Wunsch der nordkoreanischen Flüchtlinge nach einem besseren Leben in Freiheit und Frieden im Süden zum Ausdruck. „Ein nach Süden aus-gerichtetes Haus“, der Titel der Ausstellung, symbolisiert ein warmes, sonniges Haus, nach dem man sich sehnt.
Ihr Gemeinschaftswerk Karte der Koreanischen Halbinsel, eingebettet in Sigma stellt mit einem farbigen Σ in Form des mathematischen Summenzeichens Sigma die Koreanische Halbinsel dar. Eingesetzt wurden dabei die im Rahmen des Projekts Sich mit Farben verständigen hergestellten Farben. Bei diesem Projekt haben 30 nordkoreanische Flüchtlinge und 29 Südkoreaner mit mit unterschiedlichen Farben ihre jeweilige Vorstellung von der Wiedervereinigung zum Ausdruck gebracht, ergänzt von Shins und Kois „Farben von Emotionen“, sodass insgesamt 101 Farben präsentiert wurden. Nach der Ausstellung wurden die Farben Einrichtungen, die sich für Wiedervereinigungsbildung engagieren, gestiftet, die sie künftig staffellaufartig weitergeben werden.
Der Weg zu einem nach Süden ausgerichteten Haus, den ich mit dir gehe, eine von Kois Arbeiten, ist eine Installation mit 50 Paar Sneakers, die den Eindruck erwecken, dass Koi sie früher in Nordkorea täglich getragen hätte.
„Ich habe handgeschriebene Nachrichten in jedes der 50 Paare gelegt, um meinen 50 nordkoreanischen Freunden Grüße zu senden. Darin enthalten sind die Sehnsucht nach meiner in Nordkorea zurückgelassenen Familie, meinen Freunden und der Wunsch nach Wiedervereinigung. Viele Besucher haben lange vor diesem Werk gestanden. Einige haben jeden Brief sorgfältig gelesen und waren zu Tränen gerührt, andere haben in ihren Kommentaren geschrieben, wie beeindruckt sie gewesen seien. Für mich persönlich ist es das wertvollste Werk.“
Unit Harmony, eine weitere Arbeit Kois, wurde von mit Wünschen beschrifteten Papierfliegern inspiriert, die man in die Luft aufsteigen lässt, damit die Wünsche in Erfüllung gehen. Jedes einzelne „Einheit“ symbolisiert einen unterschiedlichen, individuellen Traum. Das Werk steht für die Vision eines vereinten Koreas, aufgebaut auf den unzähligen Wünschen nach Wie-dervereinigung, ganz so, wie all die kleineren Träume zusammen für einen größeren Traum stehen.
Verständigung und Geduld
Langstreckenlaufbahn, eins der Solowerke Shins, symbolisiert die lange, anstrengende Reise der 46 Menschen, an die sie sich unter den vielen nordkoreanischen Flüchtlingen, die sie als Kunsttherapeutin kennenlernte, noch gut erinnert.
„Schon seit meiner Kindheit ist es für mich schwierig, lange Strecken zu laufen. Die nordkoreanischen Flüchtlinge haben bis zu ihrer Ankunft im Süden Momente der Gefahr und der Erleichterung erlebt. Daher wollte ich ihre diesbezüglichen Erfahrungen mit den Gefühlen beim Langstreckenlauf vergleichen.“
Sitz, ein weiteres Werk von Shin, steht für mes
Flüchtlinge, die tief in ihrem Herzen verankert bleiben.
Trotz ihrer besonderen Mentor-Mentee- Beziehung haben Shin und Koi während ihrer Zusammenarbeit immer wieder gemerkt, dass sich ihre Wertvorstellungen aufgrund der Unterschiede ihres Lebensumfeldes und ihrer Erfahrungen voneinander unterscheiden. Verständigung, Rücksichtnahme und Geduld waren erforderlich. Bei der Zusammenarbeit haben sie auch über die Integration ihrer unterschiedlichen kulturellen Hintergründe nachgedacht.
Koi sagt, dass sie durch die überraschend hohe Zahl der Besucher ermutigt worden sei.
„Ich bin eigentlich wegen COVID-19 von einer geringeren Besucherzahl ausgegangen, aber zu meiner Überraschung kamen unerwartet viele Menschen. Das hat mich davon überzeugt, dass mein Talent sinnvoll für die Wiedervereinigung Koreas genutzt werden könnte. Dass zwei Kunstschaffende aus dem Süden und Norden zusammenarbeiten, ist meiner Meinung nach schon ein erster Schritt in Richtung Wiedervereinigung.“
Die Ausstellung ging auf Shins Initiative zurück. Es war eine Fortsetzung der Ausstellung Ein nach Süden ausgerichtetes Haus, die 2008 als Kunsttherapie- und Integrationsprojekt für junge nordkoreanische Flüchtlinge von der Seoul Frauenuniversität und dem für Bildung und Erziehung zuständigen Amt Incheon Dongbu Office of Education veranstaltet wurde. In der vom National Unification Advisory Council (NUAC) betriebenen Pyeongwha Nanum Gallery (Galerie zum Friedensteilen) ist im Frühling 2021 eine weitere Ausstellung geplant.
Shin erklärt: „Wir haben die Ausstellung von vornherein nicht als einmalige Veranstaltung, sondern als fortlaufendes Programm konzipiert. Anlässlich der diesmaligen Ausstellung wollen wir eine Brückenrolle spielen, um daraus größere Projekte zu entwickeln, bei denen noch mehr Menschen mitwirken und sich verständigen, sodass sie sich mit einer positiveren Einstellung gegenüber der Wiedervereinigung auf natürliche Weise Nordkorea annähern können.“
„Insbesondere dadurch, dass zwei Kunstschaffende aus dem Süden und dem Norden in der Lage waren, zu kollaborieren, statt getrennt zu arbeiten, sollte doch schon ein erster Schritt in Richtung innerkoreanische Wiedervereinigung getan worden sein.“
Der Weg zu einem nach Süden ausgerichteten Haus, den ich mit dir gehe. Koi. 2020. Stoff, Handschrift, Installation von 50 Paar Sneakers.
Jedes des 50 Sneaker-Paare, die identisch mit denen, die Koi in Nordkorea trug, sind, enthält einen Brief, in dem sie ihre Freunde im Norden grüßt.
Wenn die Kunsttherapeutin Shin Hyung-mee (links) und Koi, ihr Schützling aus Nordkorea, zusammenarbeiten, kommen oft die unterschiedlichen Wertvorstellungen an die Oberfläche. Kommunikation, Rücksichtnahme und Geduld sind ausschlaggebend für ihre Zusammenarbeit.
Schritte zum Traum
Zurzeit studiert Koi im Master-Studiengang Fashion Business an der Graduate School of Fashion der Hongik Universität und arbeitet bei einer modebezogenen Organisation. 2016 hatte sie in Common Ground, Südkoreas erstem, von der Kolon Group gesponserten Einkaufskomplex aus 2000 modularen Versandcontainern, zusammen mit neun jungen süd- und nordkoreanischen Künstlern eine Ausstellung geplant und daran teilgenommen. Ihr Traum ist es, eine einflussreiche Expertin in den Bereichen Modeindustrie, Kunst und Kultur zu werden, um eine nützliche Rolle nach der Vereinigung der beiden Koreas übernehmen zu können.
Seit 2004 unterhält Shin enge Beziehungen zu nordkoreanischen Flüchtlingen. Anlass dafür war, dass sie während ihrer Freiwilligenarbeit bei Ärzte ohne Grenzen einen Jungen aus Nordkorea kennenlernte. Als Kunsttherapeutin hat sie in Hanawon, einer staatlichen Einrichtung zur Integration nordkoreanischer Flüchtlinge, durch psychologische Beratung und Kommunikation die geistige Heilung nordkoreanischer Flüchtlinge unterstützt. Nach dem Bachelor-Studium in Bildender Kunst an der Ohio University schloss sie ein Masterstudium in Kunsttherapie an der Graduiertenschule der Seoul Frauenuniversität ab. Zurzeit macht sie ein Promotionsstudium in Klinischer Kunsttherapie an der Graduiertenschule der CHA Universität. In der Überzeugung, dass es eine wichtige staatliche und gesellschaftliche Aufgabe ist, nordkoreanischen Flüchtlingen zu einem neuen, besseren Leben im Süden zu verhelfen, bereitet sie diverse Aktivitäten vor, um in verschiedenen Bereichen der südkoreanischen Gesellschaft einen Bewusstseinswandel einzuleiten.